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Deutsch

Depression und der Sinn des Lebens


Karl Payer
[Journal für Philosophie & Psychiatrie, Jg. 2 (2009), Ausgabe 2]

Zusammenfassung

In diesem Artikel werden psychiatrische Diagnostik und Psychotherapie der Depression in einen Zusammenhang mit der Heideggerschen Konzeption der Angst, wie er sie in "Sein und Zeit" entwickelt hat, gestellt. Die Angst ist eine ausgezeichnete Befindlichkeit in dem Sinne, dass sie den betroffenen Menschen aus der Uneigentlichkeit zurückholt und auf sich selbst zurückwirft. Sie eröffnet ihm so die Möglichkeit, seine Eigentlichkeit in den Blick zu bekommen.
In Teil 1 werden die Kernsymptome der Depression beschrieben (ICD 10, Kraepelin) und es wird darauf hingewiesen, dass Existenzangst, die in der Depression sehr typisch und häufig vorkommt, in den üblichen Diagnosemanualen nicht dazu gerechnet wird.
In Teil 2 wird eine Interpretation des Heideggerschen Angstphänomens gegeben. Es soll gezeigt werden, dass dieses im Wesen mit dem psychiatrischen Begriff der Depression in Übereinstimmung gebracht werden kann.
In Teil 3 wird die Interpersonelle Psychotherapie als eine hocheffiziente Therapieform der depressiven Episode vorgestellt. Es wird darauf hingewiesen, dass Depressionen häufig in einem Zusammenhang mit ungelöster Trauer und Rollenwechsel stehen.
In Teil 4 werden Heideggers philosophischen Implikationen bezüglich Angst auf das Krankheitsbild der depressiven Episode bezogen. Damit stellt sich diese als die Erkrankung des Sinns und zugleich als sinnvolle Erkrankung dar, die dem Betroffenen die Möglichkeit eröffnet, seine eigentliche Existenzweise zu entdecken und zu leben.
In Teil 5 werden anhand einer Gegenüberstellung der Anschauung von H. Tellenbach und jener von L. Binswanger in Bezug auf Heideggers Angstbegriff einerseits und dem Krankheitsbild der depressiven Episode andererseits mögliche Gründe diskutiert, die den Blick auf den postulierten Zusammenhang zwischen diesen beiden verdeckten.

Schlüsselwörter: Depression, Angst, Heidegger, Sein und Zeit, Interpersonelle Psychotherapie, Eigentlichkeit, Sinn des Lebens

Abstract

Depression and the sense of life
In this paper the psychiatric diagnostic and the psychotherapy of depressions are put in relation with Heidegger's concept of anxiety, which he developed in his book "Being and Time". Anxiety is a distinctive state-of-mind (mood), which gets one back from inauthentic existence, throwing them back to oneself. In that way, anxiety offers one the opportunity of seeing their authentic existence.
In the first part of this article, the main symptoms of depressions are described (ICD 10, Kraeplin). It will be pointed out that angst (existential anxiety) is not seen as one of the main symptoms in common diagnostic manuals, even though it often and typically appears during depressions.
In the second part, an interpretation of Heidegger's phenomenon of anxiety is given and it is shown that the fundamental ground of this phenomenon and the one of the psychiatric explanation of depression can be matched.
In the third part, Interpersonal Psychotherapy is introduced as a highly efficient form of treatment of depressive episodes. It will be pointed out that depressions often appear in connection with unsolved grief and role transition.
In the fourth part, Heidegger's philosophical implications, concerning anxiety, are put in relation with the clinical picture of depressive episodes. Thus this illness of the sense turns out to be a sensible illness at the same time, which opens up one's opportunity for their authentic existence.
In the fifth part, the views of H. Tellenbach and L. Binswanger refering to Heidegger's phenomenon of anxiety on one hand and to the clinical picture of depressive episode on the other hand are compared and form the basis for the discussion of possible reasons which cover up the postulated connection between those two concepts.

Key words: Depression, Anxiety, Heidegger, Being and Time, Interpersonal Psychotherapy, Authentic Existence, Meaning of Life

I.

Depressive Symptome treten innerhalb verschiedener psychischer Störungen auf. Dabei kann sich die depressive Verstimmung auf unterschiedliche Art äußern. Sie kann leicht oder schwer sein, kurz oder lange andauern, und sie äußert sich, wenn wir den Lehrbüchern und Diagnosemanualen Glauben schenken dürfen, in einer scheinbaren Eintönigkeit. Häufig zeigen Depressionen einen episodenhaften Verlauf. Deshalb wurde ein Beschwerdebild mit typischen Merkmalen herausgearbeitet, das im Klassifikationssystem der WHO als depressive Episode (ICD 10) und in dem der APA als Episode einer Major Depression (DSM IV) bezeichnet wird.

Im ICD 10 werden folgende Hauptsymptome beschrieben: gedrückte Stimmung, Interessenverlust, Freudlosigkeit, Verminderung des Antriebs, erhöhte Ermüdbarkeit und Aktivitätseinschränkung. Als häufige Symptome werden verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit, vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, Schuldgefühle und Gefühle von Wertlosigkeit, negative und pessimistische Zukunftsperspektiven, Suizidgedanken, erfolgte Selbstverletzung oder Suizidhandlungen, Schlafstörungen und verminderter Appetit ausgewiesen. Praktisch gleich wird die Symptomatik im DSM IV beschrieben.

Ähnlich beschrieb schon vor über 100 Jahren Kraepelin die Melancholia simplex. Daraus ein Auszug:

"(...) Wie schon unter normalen Verhältnissen jede intensivere Gefühlsregung in unserem Inneren unser ganzes Interesse in Anspruch nimmt und uns unfähig macht, unsere Aufmerksamkeit dauernd auf die Dinge außer uns zu konzentrieren, so bildet sich hier in noch höherem Maße eine Gleichgültigkeit gegen die Umgebung, ein gänzlicher Mangel an Interesse selbst für diejenigen Beziehungen des Kranken heraus, deren Verfolgung ihm früher die größte Befriedigung gewährte, Theater, Konzerte, Geselligkeit, Vergnügungen, die bis dahin mit Eifer kultiviert worden waren, lassen ihn kalt oder ekeln ihn sogar an; die Arbeit, das Geschäft, der Beruf, der seine Freude war, erscheint dem Kranken jetzt fade und trostlos; er kann sich nicht mehr recht freuen und sich nicht mehr grämen, weil ihn die äußeren Eindrücke gemütlich nicht mehr so berühren und jede auftauchende Gefühlsregung aufgeht in dem einen dumpfen Gefühle der peinlichsten Unlust.
Die Zuneigung zu den Freunden, zu den Eltern, zu Weib und Kind macht einer stumpfen Gleichgültigkeit Platz, die von dem besonnenen Kranken klar empfunden wird. Er weiß und fühlt, dass es in ihm so öde und leer geworden ist, dass er sein Interesse und seine gemütliche Regsamkeit verloren hat. Die Welt ist ihm eine andere geworden, als früher, nicht nach ihrem äußeren Scheine, der noch derselbe geblieben ist, aber nach ihrem Wesen; es ist alles tot für ihn und ohne inneres Leben. Den Vorgängen in der Umgebung, ja auch den eigenen Erlebnissen gegenüber fühlt sich der Kranke wie ein unbeteiligter Zuschauer; es ist alles wie auf dem Theater, und die Menschen erscheinen ihm nur wie Marionetten ohne Fleisch und Blut. Dieses Bewusstsein der eigenen Gemütsstumpfheit und Kälte, der völligen Veränderung, welches sich in seinem Inneren vollzogen hat, wird für den Melancholiker sehr gewöhnlich eine Quelle peinlicher Vorstellungen, die sehr leicht den Charakter der Selbstvorwürfe annehmen und so die Entstehung von Versündigungsideen begünstigen. (…)" (Kraepelin, 1883, S. 190)

[Anmerkung: Kraepelin beschreibt hier einen schweren depressiven Zustand. Dieses klinische Bild trifft bei weitem nicht auf alle Menschen mit Depressionen zu. Im Gegenteil! Da Depressionen typische Tagesschwankungen aufweisen, kann es sein, dass ein Betroffener am Morgen antriebslos im Bett liegt und am Abend an fröhlichen Unternehmungen teilnimmt - dies auch im stationären Kontext. Zudem sind die meisten Menschen während einer depressiven Verstimmung den Anderen gegenüber nicht abgestumpft, sondern äußerst zugewandt, hilfsbereit, mit- und einfühlend. Und dennoch ist auch für diese Patienten die Kraepelin'sche Zuschreibung in gewisser Weise doch treffend. Warum das so ist, kann aus Platzgründen an dieser Stelle nicht erörtert werden.]

Angst, obwohl durchaus bekannt und als melancholische Angst benannt, wird nicht als Kernsymptom der Depression beschrieben.

Im ICD 10 findet sich der Satz:

"In einigen Fällen stehen zeitweilig Angst, Gequältsein und motorische Unruhe mehr im Vordergrund als die Depression." (ICD 10 Kapitel V (F), 1993, S. 139-140)

Im DSM IV:

"Bei einer Episode einer Major Depression bestehen oft Neigung zum Weinen, Reizbarkeit, Schwermut, zwanghaftes Grübeln, Angst, Phobien, übertriebene Besorgnis und die körperliche Gesundheit und Klagen über Schmerzen (…). Manche Menschen haben während der Episode einer Major Depression Panikattacken, die die Kriterien einer Panikstörung erfüllen." (DSM IV, 1998, S. 383)

Wenn auch Ängste, Furcht und Sorgen nicht als Kernsymptome einer Depression beschrieben werden, kommen sie dennoch in einem hohen Prozentsatz vor: Panikattacken, verschiedenste phobische Symptome und konkrete Befürchtungen, aber vor allem Existenzangst. Denn in der Depression geht es um Sein oder Nicht-Sein, es geht um die eigene Existenz.

II.

Martin Heidegger hat in "Sein und Zeit", ein Kapitel über die Angst verfasst. Darin wird der Begriff Depression an keiner Stelle erwähnt. Aber in seiner Dar- und Auslegung des Phänomens Angst beschreibt er nichts anderes als das Wesen der Depression.

Hier nun einige, z.T. gekürzte Zitate aus "Die Grundbefindlichkeit der Angst als eine ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins" (S. u. Z., S. 184-190), dem § 40 von "Sein und Zeit":

"Das Wovor der Angst ist das In-der-Welt-sein als solches." (S. u. Z., S. 186) "Das Wovor der Angst ist kein innerweltliches Seiendes. Daher kann es damit wesenhaft keine Bewandtnis haben." (S. u. Z., S. 186) "Das Wovor der Angst ist völlig unbestimmt. Diese Unbestimmtheit … besagt, dass überhaupt das innerweltliche Seiende nicht "relevant" ist." (S. u. Z., S. 186) "Die ... Bewandtnisganzheit ... ist als solche überhaupt ohne Belang. Sie sinkt in sich zusammen. Die Welt hat den Charakter völliger Unbedeutsamkeit." (S. u. Z., S. 186) "... das Wovor der Angst ist die Welt als solche. Die völlige Unbedeutsamkeit, die sich im Nichts und Nirgends bekundet, ... besagt, dass das innerweltlich Seiende an ihm selbst so völlig belanglos ist, dass auf dem Grunde dieser Unbedeutsamkeit des Innerweltlichen die Welt in ihrer Weltlichkeit sich einzig noch aufdrängt." (S. u. Z., S. 187) "Worum sich die Angst ängstet, ist das In-der-Welt-sein selbst. In der Angst versinkt ... das innerweltlich Seiende. Die "Welt" vermag nichts mehr zu bieten, ebensowenig das Mitdasein Anderer. Die Angst benimmt so dem Dasein die Möglichkeit, verfallend sich aus der "Welt" und der öffentlichen Ausgelegtheit zu verstehen. Sie wirft das Dasein auf das zurück, worum es sich ängstet, sein eigentliches In-der-Welt-sein-können. Die Angst vereinzelt das Dasein auf sein eigenstes In-der-Welt-sein, ...." (S. u. Z., S. 187) "Die Angst vereinzelt und erschließt so das Dasein als "solus ipse"." (S. u. Z., S. 188) "In der Angst ist einem "unheimlich"." (S. u. Z., S. 188) "Unheimlichkeit meint aber dabei zugleich das Nicht-zuhause-sein." (S. u. Z., S. 188) "Die alltägliche Vertrautheit bricht in sich zusammen. Das Dasein ist vereinzelt, ..." (S. u. Z., S. 189)

Im Folgenden eine Interpretation des Heidegger-Textes im Hinblick darauf, dass er genau genommen einen Zustand beschreibt, den wir heute als Depression bezeichnen würden:

In diesem Zustand macht dem Menschen sein nacktes Dasein Angst. Allein die Tatsache, dass er existiert, macht ihm Angst. Die Welt, in der es sich gerade noch so schön und angenehm leben ließ, hat als ganze ihren Charakter verwandelt. Nichts ist mehr so wie früher. Die Welt ist düster geworden, Dunkelheit ist eingekehrt. In dieser unheimlichen Welt gibt es nichts mehr, was das Leben lebenswert machen würde. - Ich der kleine, wertlose, schwache und bedeutungslose Mensch! Wie soll ich in dieser schrecklichen Welt bestehen können? - Obwohl es gar nichts Bestimmtes gibt, das speziell bedrohlich wäre, ist für ihn die ganze Welt - die Welt als ganze - bedrohlich geworden. Nichts in der Welt ist noch relevant für ihn. Denn sein Bezug zu allem, was ihm in seinem Leben von Bedeutung war, ist verloren gegangen. Seine Liebste, seine Kinder, seine Eltern, seine Freunde, ja sogar seine Gegner und Feinde - nichts fühlt er für sie, als ob es sie für ihn nicht mehr gäbe. Zwischen ihm und ihnen hat sich eine tiefe unüberbrückbare Kluft aufgetan. Er spürt ihnen gegenüber weder Liebe, noch Sehnsucht, noch Wut oder Hass, auch keine Furcht - nur Öde und Leere. Er sieht sie, hört sie, aber er spürt nichts für sie, als ob sie außerhalb seiner Welt wären. Alles wofür er sich in seinem Leben interessierte, ist für ihn belanglos geworden: sein Beruf, seine Freizeitaktivitäten, seine Hobbys. Für nichts hat er noch Interesse. Mit nichts hat es noch irgendwelche Bewandtnis. Dies alles kann ihm - genauso wie die Menschen - nichts mehr bieten. Alles, was es in seiner Welt gibt, ist völlig bedeutungslos für ihn geworden. Er ist ganz und gar auf sich selbst, auf sein nacktes Dasein zurückgeworfen. Er steht ganz allein in seiner Welt da. Er fühlt sich in seiner Welt nicht mehr zuhause, ihm ist nichts mehr vertraut, ihm ist unheimlich geworden. Er erinnert sich sehr wohl daran, wie alles mal war. Er erinnert sich daran, wie sehr er Menschen liebte, auf sie stolz war, sie beneidete, um sie fürchtete, sich nach ihnen sehnte. Er erinnert sich, wie gerne er seinen Beruf hatte, wie sehr dieser ihm Erfüllung gab, genau wie seine anderen Interessen und Aktivitäten auch. Die ganze "Welt", die Politik, die Umwelt, die Natur, die Kunst lag ihm früher am Herzen - all dies bedeutet ihm jetzt nichts mehr. Die Welt hat ihre Struktur verloren. Allein und schutzlos steht er da in seiner leer gewordenen Welt. Es gibt nichts mehr, wovor er sich noch fürchten könnte, genauso wie es nichts mehr gibt, worum er fürchten könnte. Nur noch seine nackte Existenz ist es, worum er Angst hat. - Wie kann ich wertloser Mensch in dieser Welt, die keinen Wert mehr für mich hat, denn überleben? Welche Zukunft hab ich noch? Es gibt nur noch eines, wovor ich Angst haben muss, davor, ob ich in der Welt, die eine andere geworden ist, bleiben oder aus ihr scheiden werde. Und wo alles andere von mir abgefallen ist, gibt nur noch eines, worum ich Angst habe: um das, was mich eigentlich ausmacht und in der Welt hält.

III.

Das klinische Bild der depressiven Episode stimmt mehr oder weniger mit dem überein, welches früher als endogene Depression bezeichnet wurde. Man nahm an, dass für diese Krankheit v. a. biologische Faktoren verantwortlich seien, sie sozusagen eine Stoffwechseldysbalance im Gehirn darstelle. Noch dazu fand man hochwirksame Medikamente, die diesen Zustand zum Abklingen brachten. Man meinte, Psychotherapie sei nicht hilfreich und unwirksam. [Anmerkung: Auch Heidegger schreibt: "Oft ist die Angst "physiologisch" bedingt." (S. u. Z., S. 190)] Es ist grundsätzlich nichts einzuwenden, wenn man "biologisch" und "physiologisch" als das sieht, was sie sind: bestimmte Sichtweisen auf die bzw. Abstraktionen von der Wirklichkeit. Nun hat aber die wissenschaftliche Forschung nachgewiesen, dass zwei Formen der Psychotherapie in der Behandlung der leichten und mittelschweren depressiven Episode in etwa gleich gut wirksam sind wie die Einnahme von Medikamenten, den Antidepressiva. Die beiden Therapiemethoden sind die KBT, die kognitive Verhaltenstherapie und die IPT, die Interpersonelle Therapie der Depression. Uns interessiert hier in erster Linie die IPT, da sie unseres Erachtens in direktem Bezug zum Wesen der Depression steht. Wie kam es zur Entwicklung der IPT? Man postulierte, dass Depressionen nicht zufällig sondern in typischen zwischenmenschlichen Kontexten entstehen würden. So suchte man nach psychosozialen Belastungsfaktoren, die im Zeitraum von einigen Monaten vor Beginn einer Depression auftraten. Diese fand man auch. Man teilte sie in 4 Kategorien ein: Trauer, zwischenmenschliche Konflikte, Rollenwechsel und -übergänge und interpersonelle Defizite. Wir fokussieren hier auf die Kategorien Trauer sowie Rollenwechsel und -übergänge, da diese die Funktion der Depression deutlich zeigen. (Anmerkung: Den Zustand, in dem sich jemand befindet, der an einem schweren, andauernden zwischenmenschlichen Konflikt leidet, können wir auch als Rollenkonflikt mit dem Wunsch, in dieser Beziehung eine neue Rolle einzunehmen zu wollen, betrachten.) Oft treten Depressionen nach Todesfällen auf. Und zwar dann, wenn der Betroffene nicht angemessen trauern konnte. Sie können bei unbewältigter Trauer auch erst nach Jahren manifest werden - typischerweise, wenn der Betroffene ins selbe Alter kommt, in dem die geliebte Person starb oder im Zeitraum von Gedenktagen. Wesentlich häufiger kommt es nach Rollenwechsel zu depressiven Erkrankungen. Aus der deutschen Übersetzung des IPT-Therapiemanuals:

"Eine Depression kann sich entwickeln, wenn eine Person Schwierigkeiten hat, mit Lebensveränderungen fertig zu werden, die einen Wechsel der sozialen Rolle erfordern. Fast jeder Mensch hat mehrere Rollen im sozialen System, und diese Rollen werden unauslöschlich zu einem Teil des Selbst. Die Rollen selbst sowie der damit verbundene Status beeinflussen das soziale Verhalten und die zwischenmenschlichen Beziehungsmuster des einzelnen erheblich. Wenn eine schnelle Anpassung an neue, unvertraute Rollen erwartet wird, kommt es häufig dazu, dass die soziale Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird. Dies ist besonders bei Veränderungen der Fall, die vom Betroffenen als Verlust erlebt werden. Rollenveränderungen werden häufig von Personen als Verlust erlebt, die zu Depressionen neigen." (Schramm, Interpersonelle Psychotherapie, 2003, S.170)

Im Manual werden folgende Beispiele für Rollenwechsel, die als Verlust erlebt werden können, genannt: Scheidung, Geburt eines Kindes (Verlust von persönlicher Freiheit), Berentung oder irgend ein anderer Wechsel der sozialen oder beruflichen Rolle (besonders wenn er verminderten sozialen Status mit sich bringt), Umzug, Arbeitsplatzwechsel, Verlassen des Elternhauses, ökonomische Veränderungen, Veränderungen der Rollen innerhalb der Familie (infolge von Krankheit, neuen Verantwortungen oder Berentung).

In der Therapie geht es nun darum, sich von der alten Rolle zu lösen und in der neuen Rolle neue Bindungen einzugehen. Bei unbewältigter Trauer geht es darum, sich vom Verstorbenen zu lösen, um neue Beziehungen eingehen zu können.

Wir können die Depression ausschließlich als möglichst zu vermeidende Krankheit ansehen. Aber wir können ihr auch eine wichtige Funktion zuschreiben: Im Leben müssen wir uns oft von einem geliebten Menschen, der verstorben ist oder uns verlassen hat oder einer wichtigen Rolle, die wir in der Vergangenheit erfüllt haben, die aus welchen Gründen auch immer in der Gegenwart und Zukunft nicht mehr möglich oder zeitgemäß ist, lösen. Obwohl wir den Menschen oder die alte Rolle verloren haben, hängt unser Herz noch an ihm bzw. an ihr. Die Depression wirft uns nun auf uns selbst zurück und zwingt uns auf schmerzliche Weise dazu, uns mit unserem Verhältnis zu ihm bzw. zu ihr auseinander zu setzen. Sie hat dann ihre Funktion erfüllt, wenn wir uns loslösen und fähig werden, neue Bindungen einzugehen bzw. die neue Rolle zu übernehmen.

IV.

In "Sein und Zeit" fragt Heidegger - im Hinblick auf den Sinn des Seins überhaupt - nach dem Sinn des menschlichen Daseins. Er geht davon aus, dass wir den eigentlichen Sinn erst im Laufe des Lebens erfahren. Zunächst und zumeist sind wir im Zustande des Verfallenseins. Wir sind den Sachen und den Angelegenheiten, mit denen wir zu tun haben, verfallen - und wir sind Menschen verfallen. Wir hängen an ihnen, wir haften an ihnen. Wir richten unser Leben nicht nach unseren eigenen Bedürfnissen aus, wir richten uns nach der allgemeinen Meinung, wir schwimmen mit den anderen mit. Wir sind nicht mehr gesammelt, mehr und mehr sind wir zerstreut und schließlich haben wir uns selbst verloren. Genau genommen geraten wir nicht in den Zustand der Verlorenheit, sondern wir sind erst mal in ihm. Wir wissen gar nicht um unsere eigensten Möglichkeiten. Wir leben im Zustande der Uneigentlichkeit. Doch plötzlich steigt Angst in uns auf. Diese katapultiert uns aus unserer Verfallenheit heraus und wirft uns auf uns selbst zurück. Heidegger:

"Die Angst dagegen holt das Dasein aus seinem verfallenden Aufgehen in der "Welt" zurück. Die alltägliche Vertrautheit bricht in sich zusammen. Das Dasein ist vereinzelt, das jedoch als In-der-Welt-sein. Das In-Sein kommt in den existenzialen "Modus" des Un-zuhause." (S. u. Z., S. 189) und: "Diese Vereinzelnung holt das Dasein aus seinem Verfallen zurück und macht ihm Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit als Möglichkeiten seines Seins offenbar. Diese Grundmöglichkeiten des Daseins, das je meines ist, zeigen sich in der Angst wie an ihnen selbst, unverstellt durch innerweltliches Seiendes, daran sich das Dasein zunächst und zumeist klammert." (S. u. Z., S. 191)

Allein und beziehungslos stehe ich da. Meine Welt und mein Leben als Ganzes sind in Frage gestellt. Was will ich selbst eigentlich? Und: Was ist eigentlich der Sinn meines Lebens? In der Angst oder, - modern gesprochen - in der Depression stellt jeder von uns diese Fragen, weil er gar nicht anders kann, denn durch den Verlust der Bezogenheit ist auch der Sinnzusammenhang verloren gegangen. Wir haben nun grundsätzlich 3 Möglichkeiten: 1. Wir können uns unseren Illusionen hingeben und uns weiterhin an das hängen, was wir eigentlich schon verloren haben. ("Uneigentlichkeit"; "Man-selbst") 2. Wir können uns von dem, was wir verloren haben, lösen und uns den gegebenen Umständen anpassen, uns an einen anderen Menschen oder eine andere Aufgabe in einer neuen Rolle hängen, um diesem bzw. dieser erneut zu verfallen. ("Uneigentlichkeit"; "Man-selbst") 3. Wir können aber auch einen anderen Weg wählen. Anstatt unser Heil im Außen zu suchen, können wir entschlossen nach innen gehen. Denn der Ruf lautet: Werde der du bist! Auf diese Weise können wir unsere eigene Mitte und unser eigentliches Selbst finden. Und wir können uns in uns selbst, in unserer eigenen Mitte verankern. Denn wir Menschen brauchen einen Halt. Wenn wir ihn in uns selbst gefunden haben, brauchen wir ihn nicht mehr im Außen zu suchen. Wir brauchen uns nicht mehr an andere Menschen bzw. an äußerliche Umstände zu klammern. Wir haben unseren eigentlichen Ursprung in uns selbst gefunden und können - in unserer eigenen Mitte ruhend - mit den Menschen, die uns begegnen und den Angelegenheiten, mit denen wir zu tun haben, auf eine neue und wahrhaftige Weise umgehen. ("Eigentlichkeit"; "eigentliches, d. h. eigens ergriffenes Selbst")

Wenn wir den Heideggerschen Ausdruck Angst mit Depression übersetzen, und das bedenken, was er über diesen Zustand sagt, erweist sich die Depression nicht nur als die Erkrankung des Übergangs. In Lebensphasen, in denen wir uns von einem Menschen, den wir verloren haben bzw. von einer alten Rolle, an der wir noch hängen, lösen müssen, wirft sie uns auf uns selbst zurück. Wir sind gezwungen in uns zu gehen und unsere Beziehung(en) und unsere Aufgaben zu überdenken und neu zu definieren. Und doch geht es um mehr. Es geht um unsere Eigentlichkeit, um unsere Authentizität (gr. αὐθεντικός authentikós "echt", bedeutet Echtheit im Sinn "als Original befunden"). Es geht um unsere Ent-wicklung, darum, der zu werden, der wir im Gefüge all unserer widersprüchlichen Rollen und Beziehungen eigentlich sind.

Viele Menschen sind auf Grund von theoretischen Überlegungen überzeugt, das Leben sei an sich sinnlos. Sie sind durch Nachdenken zur Erkenntnis gekommen, Spiritualität sei nichts anderes als ein Hirngespinst. Oft entwickelt sich diese Einsicht aus einer wissenschaftlichen Einstellung heraus. Dennoch ist ihr Leben üblicherweise voller Sinn. Sollten sie im Nachdenken über die Sinnlosigkeit des Lebens plötzlich diese auch spüren, haben sie jederzeit die Möglichkeit, diesen Gedanken sofort wieder fallen zu lassen und sich etwas anderem zuzuwenden. Denn augenblicklich findet man Sinn in Zerstreuungen, im Genießen und vor allem, indem man sich einer Aufgabe widmet. Ganz anders ist es aber in einer depressiven Stimmung. In ihr ist dem Betroffenen der Sinn des Lebens verloren gegangen. Ständig spürt er Sinnlosigkeit, er kann diesem Gefühl nicht ausweichen. Er kann sich keiner Aufgabe widmen, kann nicht genießen und sich nicht zerstreuen. Denn er ist von Zerstreuung, Genuss und Aufgaben abgeschnitten. So ist er gezwungen, sich ständig die Frage nach dem Sinn seines Lebens zu stellen. Häufig kommt es während einer depressiven Erkrankung zu tageszeitlichen Aufhellungen der Stimmung. In diesen Stunden kehrt Sinn wieder ein. Jedoch verwandelt er sich im darauf folgenden Tief erneut mit voller Wucht zur schmerzlichen Frage. Und diese lautet: Was ist der eigentliche Sinn meines Lebens? So ist die Depression die Erkrankung des Sinns, in der er zerbröckelt und verloren geht. Und zugleich ist sie die Erkrankung voller Sinn. Denn sie zwingt uns, uns mit dem Sinn des Lebens auseinander zu setzen und eröffnet uns so die Möglichkeit, unseren eigentlichen Sinn zu entdecken, und damit der zu werden, der wir eigentlich schon immer gewesen sind.

[Anmerkung: Selbst-werdung ist das Thema in "Sein und Zeit", d.h. in der fundamentalontologischen Periode Heideggers. Damit finden wir zwar Sinn im Leben. Aber der Sinn des Lebens im Ganzen bleibt uns weiterhin verschlossen. Erst die Selbst-aufgabe im Auf-gehen im Seyn lässt das menschliche Da-sein im wahren Licht des Einen und Ganzen, eben des Seyns er-scheinen. Dies ist das Thema des späten Heidegger in seinem seynsgeschichtlichen Denken.]

V.

Ist die in diesem Aufsatz behauptete Verbindung der psychischen Störung depressive Episode mit dem Problem der Eigentlichkeit (Authentizität) an den Haaren herbeigezogen oder besteht doch ein innerer Zusammenhang zwischen beiden?

Ähnlich fragte schon Aristoteles: "Warum sind alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder Dichtung oder in den Künsten offenbar Melancholiker (μελαγχολικοί); und zwar ein Teil von ihnen so, dass sie sogar von krankhaften Erscheinungen, die von der schwarzen Galle ausgehen, ergriffen werden …?" (nach Tellenbach, Melancholie, S. 8)

Einen möglichen Schlüssel dazu stellt Heideggers Konzeption der Angst, wie er sie in "Sein und Zeit" entwickelt hat, dar. Die Frage, die sich sofort erhebt: Stimmt die Angst, wie sie in der Depression erlebt wird, mit Heideggers "ontischem" Angstbegriff überein oder besteht zwischen beiden ein fundamentaler Unterschied? Und die nächste Frage: Wenn Ja, gibt es Psychiater, die dies auch so sahen? Einer, der es offensichtlich so sah, war Hubertus Tellenbach. Er stellte diesen Konnex bereits im Jahre 1956 in seinem im "Der Nervenarzt" publizierten Artikel: "Die Räumlichkeit der Melancholischen" her.

"So ist die Räumlichkeit melancholischen Daseins gekennzeichnet durch ein Entrücktsein - genauer gesagt: durch ein ständiges Entrücktwerden - jene gleichsam stehende Bewegung in die Nichtigkeit der Angst. Auch für die Angsterfahrung melancholischen Daseins hat Heidegger (3) ein ursprüngliches Verständnis ermöglicht. … In hellsichtiger Nähe beim Phänomen sagt die Patientin V M.B.K. "Denn das wahre und entsetzliche Wesen der Angst in der Depression ist ihre Gegenstandslosigkeit." Es ist ein erstarrtes Schweben in der Angst ungeheuren Entrücktwerdens, in dem nur "das noch-am-Leben-sein" verbleibt (Patientin II A.D.)." (Der Nervenarzt, 27. Jahrgang, Heft 7, S. 296)

Allerdings stieß er auf heftige Gegenargumente aus der Feder Binswangers.

Wir zitieren Binswanger aus dessen Werk "Melancholie und Manie": "Verleitet von der Ähnlichkeit der Ausdrucksweise einiger seiner Kranken mit derjenigen Heideggers hat Tellenbach die Meinung geäußert, dass Heidegger auch für die Angsterfahrung des melancholischen Daseins ein ursprünglicheres Verständnis ermöglicht habe." (Ausgewählte Werke Band 4, S. 382)
…. "Hierin sieht Tellenbach - wie es auch mir selbst früher nahe lag - die Übereinstimmung mit der Rede der Melancholischen von der "Gegenstandslosigkeit" in der Angst." (Ausgewählte Werke Band 4, S. 382)
Und Binswanger schreibt weiter: "Wenn wir von melancholischer Angst oder Angst in der Melancholie sprechen, so handelt es sich um keine existenziale Angelegenheit, sondern um eine "Naturbedingte Störungsstelle in der Abwandlung der transzentalen Gangstruktur des menschlich-geistigen Lebens." (Ausgewählte Werke Band 4, S. 382)
Und: "Man darf ja nicht Heilung von der Melancholie und die damit ermöglichte Zurückfindung zum Selbst mit der eigentlichen Selbstigung auf dem Grunde des Ausgesetztseins in der Angst verwechseln." (Ausgewählte Werke Band 4, S. 382)

Vielleicht hatte aber doch Tellenbach ein ursprünglicheres Verständnis von Depression und Angst als Binswanger. Leider verfolgt er seinen Ansatz nicht konsequent weiter. Im Gegenteil: in seinem Hauptwerk "Melancholie" (1961) bezieht er sein Verständnis des Wesens der Melancholie (endogene Depression) sehr wohl auf Heidegger, aber nicht mehr im Zusammenhang mit dem Angstphänomen.

Was mögen die Gründe dafür sein, dass ein Zusammenhang zwischen Heideggers Angstbegriff und der Depression in Form der depressiven Episode abgelehnt wird?

Der eine Grund mag sein, dass in der Rezeption von Heideggers Dar- und Auslegung des Angstphänomens häufig die ontische Charakteristik desselben übergangen und bereits als ontologische Interpretation angesehen wird. Heideggers Angstbegriff ist sehr wohl auch ein ontischer.

Wörtliches Zitat aus "Sein und Zeit":

Überschrift: "§ 40. Die Grundbefindlichkeit der Angst als eine ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins:" (S. u. Z., S. 184)
1. Satz nach der Überschrift: "Eine Seinsmöglichkeit des Daseins soll ontischen "Aufschluss" geben über es selbst als Seiendes." (S. u. Z., S. 184 Hervorhebung vom Autor)
Und später ganz deutlich die Mahnung: "Allein bei dergleichen Phänomenen muss die Untersuchung sich hüten, die ontisch-existenzielle Charakteristik mit der ontologisch-existenzialen Interpretation zusammenzuwerfen, bzw. die in jener liegenden positiven phänomenalen Grundlagen für diese zu übersehen." (S. u. Z., S. 184)

Gerade in § 40 ist Heidegger konsequent nach diesem Prinzip vorgegangen: ontisch-existenzielle Charakteristik → ontologisch-existenziale Interpretation. Wenn das, was noch ontisch-existenzielle Charakteristik darstellt, schon als ontologisch-existenzialen Interpretation aufgefasst wird, verliert diese ihren Boden.

Unseres Erachtens liegt im Wesen der depressiven Verstimmung jene Vereinzelnung - das Ganz-auf-sich-selbst-zurückgeworfen-sein, der Verlust der emotionalen Beziehung zu und Bindung an das, was einem zuvor von Bedeutung war. Benannt wird dieses komplexe Phänomen der Beziehungslosigkeit in der Psychiatrie als "Losigkeitssymptome". Die Welt wird leer. Tellenbach beschreibt dieses Zurückgeworfen-sein-auf-sich-selbst mit folgenden Worten:

"... Weise des Seins bei den Dingen ... Diese zeigt sich zunächst als ein eigenartiges Abgezogensein von den Dingen, als ein ständiges Zurückgeworfenwerden auf sich selbst. Das ursprüngliche, mit dem In-der-Welt-sein gegebene Verweilen bei den Dingen ist nicht etwa aufgehoben; denn so wäre ein Dasein überhaupt nicht existent. Es ist aber ein eigenartiger Bezugsverlust eingetreten, ein Verlöschen der empfindenden (sympathetischen) Kommunikation ... Es verbleiben nur die erkalteten Welten bestimmenden Wahrnehmens und schlüssigen Denkens." (Der Nervenarzt, 27. Jahrgang, Heft 7, S. 293)

Auf der ontologisch-existenzialen Ebene ermöglicht diese "Weltleere" den Hinblick auf das Weltphänomen als Unverstelltes und als Ganzes.

"Die Angst vereinzelt und erschließt so das Dasein als "solus ipse". Dieser existenziale "Solipsismus" versetzt aber so wenig in ein isoliertes Subjektding in die harmlose Leere eines weltlosen Vorkommens, dass er das Dasein gerade in einem extremen Sinne vor seine Welt als Welt und damit es selbst vor sich selbst als In-der-Welt-sein bringt." (S. u. Z., S. 188)

Auf der ontisch-existenziellen Ebene ist eine Leere entstanden, die im Heilungsprozess der Depression mit neuen Möglichkeiten er-füllt werden kann.

So beschreibt eine Patientin Tellenbachs ihre persönliche Erfahrung des Überganges von der entleerten zu einer neu-strukturierten Welt während des Heilungsprozesses auf folgende Weise:

"Wird man gesund, so bleibt aus diesem Erlebnis des Isoliertseins das Bewusstsein, wie wenig wir aus uns selbst zu leben vermögen, wie sehr wir auf Zusammenhänge angewiesen sind. Dies gilt für die kleinsten Dinge unserer Umgebung wie für die Menschen, denen wir verbunden sind, es gilt für die Natur und es gilt vor allem auch für Gott. Mir scheint es undenkbar, dass man durch eine Depression hindurchgehen könnte, ohne eine Gewissheit Gottes übrig zu behalten und eine neue Dankbarkeit dafür, dass wir in ein Gewirke versponnen sind, das uns trägt." (Der Nervenarzt, 27. Jahrgang, Heft 7, S. 291)

Es soll nicht gesagt werden, dass die Depression die einzige Möglichkeit sei, die einen Zugang zum Weltphänomen bzw. zum eigentlichen Dasein eröffnet. Aber sie ist eine von mehreren. Auch soll nicht behauptet werden, dass Angst im Heidegger'schen Sinne nur in der Depression vorkommt.

[Anmerkung: Angst als Gefühl (ontisch-existenziell) wird in der Depression häufig, jedoch bei weitem nicht immer verspürt. Wenn wir aber im Wesen der Depression das Auf-sich-selbst-zurückgeworfen-sein und die Vereinzelnung sehen, korrespondiert diese Definition der Depression sehr wohl mit Heideggers ontologisch-existenzialem Angstbegriff des existenzialen "Solipsismus".]

Es geht vielmehr um die Einbettung der Depression in jene existenzielle Erlebnisweise, welche er mit dem Angstbegriff beschreibt. Es geht um die Einbettung der Psychiatrie in die Philosophie, aus der sie ihr Verständnis bezieht.

Welches 2. Moment hinderte die Psychiater daran, Heideggers Angstphänomen als wesentlich für die depressive Erlebnisweise zu sehen? Vielleicht war es die Tatsache, dass die Einteilung in psychiatrische Krankheitsentitäten bis zum Erscheinen von DSM III nach ätiologie- und theoriebezogenen Kriterien und nicht nach phänomenologischen Gesichtspunkten erfolgte.

Lassen wir wieder Binswanger zu Wort kommen: "Was endlich Melancholie und Manie betrifft, so handelt es sich hier ausschließlich um die ausgesprochenen klinischen Phasen des manisch-depressiven Irreseins gemäß der in meinen Augen auch heute noch unerschüttert dastehenden Begriffsbestimmung und Darstellung Kraepelins. Wenn wir das Wort Depression so weit als immer möglich vermeiden, so deswegen, weil dieser Begriff heute so verschiedenartige Bedeutungen hat, ja so verwaschen ist, dass er nicht mehr zum Ausgangspunkt einer phänomenologischen Untersuchung gemacht werden kann. Der Leser wird hier also nichts vernehmen von einer Untergrunddepression (Kurt Schneider), einer reaktiv-endogenen Depression oder Dysthymie (Weitbrecht), von einer vitalen, vegetativen, hypochondrischen, existenziellen, neurotischen oder psychopathischen Depression, einer Rückbildungs- oder Entlastungsdepression usw." (Ausgewählte Werke Band 4, S. 352)

Nun wusste man schon damals, dass sich oftmals das klinische Bild einer Depression im Rahmen einer bipolaren affektiven Störung nicht von dem im Rahmen einer monopolaren, endogenen, depressiven Erkrankung unterscheiden lässt. Auch ließen sich keine klaren Unterscheidungsmerkmale zwischen endogenen und reaktiven depressiven Episoden feststellen. Bei endogene Depressionen hielt man lebensgeschichtliche Ereignisse für unwesentlich oder zumindest für nur krankheitsanstoßend. Erst als man mit DSM III das Konzept der endogenen Depression fallen ließ und depressive Störungen unabhängig von vermuteten Ursachen in phänomenologisch orientierte Entitäten zusammenfasste, war der Weg frei, um Zusammenhänge, die im gesunden Leben relevant sind auch in leichten, mittelgradigen, ja sogar schweren depressiven Episoden zu sehen. Erst die Aufgabe des Begriffes "endogen" machte den Weg frei, um das, was allen depressiven Episoden zugrunde liegt und somit deren Wesen ausmacht, zu sehen: die Zurückgeworfenheit auf sich selbst und damit der angedeutete, teilweise oder völlige Verlust der emotionalen Beziehung zu den Menschen, Angelegenheiten und Dingen, welche vormals von Bedeutung waren.

"Es war ein Irrtum der Phänomenologie, zu meinen, die Phänomene könnten schon durch bloße Unvoreingenommenheit recht gesehen werden. Es ist aber ein ebenso großer Irrtum, zu meinen, weil jeweils Hinsichten wesensnotwendig seien, deshalb könnten die Phänomene selbst nie gesichtet werden, sondern alles sei Sache jeweils zufälliger, subjektiver, anthropologischer Standpunkte. Aus diesen beiden Unmöglichkeiten ergibt sich vielmehr die Notwendigkeit der Einsicht, dass gerade die Gewinnung der rechten Hinsicht die zentrale Aufgabe und zugleich zentrales methodisches Problem ist. Eine Hinblicknahme, die dem Phänomen vorausspringt, ist notwendig; aber gerade deshalb ist es jederzeit von ausschlaggebender Bedeutung, ob die leitende Hinsicht dem Phänomen selbst angemessen, im voraus aus seinem Sachgehalt selbst geschöpft ist oder nicht (oder nur erdacht). Nicht, dass wir überhaupt unter einer Hinsicht auf das Phänomen blicken, versperrt es uns, sondern dass die Hinsicht meist nicht ihren echten und vollen Ursprung aus dem Phänomen selbst hat." (Vom Wesen der Wahrheit - GA, Band 34, S. 268)

Literatur

Heidegger, M. (1993). Sein und Zeit. 17. Auflage. Tübingen: Max Niemeyer Verlag.

Heidegger, M. (1997). Gesamtausgabe, Band 34, Vom Wesen der Wahrheit. 2. Auflage. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann.

Schramm, E. (Hrsg.) (2003). Interpersonelle Psychotherapie bei Depressionen und anderen psychischen Störungen. 3., unveränd. Nachdruck 2005 der Sonderausgabe 2003 der 2. durchges. u. aktualisierten Aufl. 1998. Stuttgart, New York: Schattauer.

Kraepelin, E. (1984). Compendium der Psychiatrie. Ambr. Abel, Leipzig 1883 (S. 190). In  A.M. Freedman, H. I. Kaplan, B. J. Sadock & U. H. Peters (Hrsg.), Psychiatrie in Praxis und Klinik, Band 1; Schizophrenie, affektive Erkrankungen, Verlust und Trauer. Stuttgart, New York: Georg Thieme Verlag.

Saß, H., Wittchen, H.-U. & Zaudig, M. (1998). Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen (DSM-IV). 2. Auflage. Göttingen, Bern, Toronto, Seattle: Hogrefe Verlag für Psychologie.

Weltgesundheitsorganisation (Autor), Dilling, H. et al. (Hrsg.) (1993). Internationale Klassifikation psychischer Störungen: ICD-10 Kapitel V (F) Klinisch-diagnostische Leitlinien. 2. Auflage. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Verlag Hans Huber.

Tellenbach, H. (1974). Melancholie. 2. Auflage. Berlin, Heidelberg, New York: Springer-Verlag.

Tellenbach, H. (1956). Die Räumlichkeit der Melancholischen II. Mitteilung. Der Nervenarzt, 27. Jahrg. Berlin, Heidelberg, New York: Springer-Verlag.

Binswanger, L. (1994). Ausgewählte Werke, Band 4. Der Mensch in der Psychiatrie. Heidelberg: Roland Asanger Verlag.



Dr. med. Karl Payer
Psychiater, Oberarzt an der Landesnervenklinik Sigmund Freud Graz
Hohlbach 24
A-8530 Deutschlandsberg
karl.payer@lsf-graz.at
www.seinundzeit.at

Dr. Karl Payer, geb. 26.9.1956, Medizinstudium in Graz, Facharzt f. Psychiatrie und Neurologie, Oberarzt an der Landesnervenklinik Sigmund Freud Graz, Arbeitsschwerpunkt: Depression und Angststörungen.




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