Uwe Gonther
[Journal für Philosophie & Psychiatrie, November 2011, Essay]
Zusammenfassung
Heinrich von Kleist (1777 bis 1811) stammte aus altem preußischen Adel, ging selber jung zum Militär, nahm an Kampfhandlungen in den Kriegen gegen Napoleon und das revolutionäre Mainz teil, quittierte jedoch mit 22, gerade zum Leutnant befördert, bereits wieder den Dienst, wurde in den folgenden Jahren Beamter und Weltenbummler, Bauer und Dichter, schuf eine Reihe bis heute sehr populärer Werke (Penthesilea, Der zerbrochne Krug, Michael Kohlhaas, Die Marquise von O...). Er durchlebte ein Auf und Ab mit beachtlichen Erfolgen und Demütigungen, gründete die erste täglich erscheinende Zeitung in Berlin, bekam Schwierigkeiten mit der preußischen Zensur und starb am 21.11.1811 am Ufer des Wannsees durch Suizid unmittelbar nachdem er seine Freundin Henriette Vogel auf deren Wunsch hin erschossen hatte.
Es findet sich in dieser kurzen Biographie die Chronik eines angekündigten Suizids. Kleist selber formulierte im Vorfeld "die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war". Dieser berühmt gewordene Satz aus seinem Abschiedsbrief vom 21. November 1811 an seine Schwester Ulrike, ist nur der Höhepunkt einer Reihe von Ankündigungen des Suizids über Jahre. Der Ausspruch fordert bis heute uns als Psychiater und Psychotherapeuten heraus. Was können wir aus der tödlichen Konsequenz, die Heinrich von Kleist aus der paradoxen Situation: "Selbsttötung als Rettung" gezogen hat, für unseren Umgang mit suizidalen Menschen lernen?
In der Therapie kann es gelingen derartige innere Programmierungen zu erkennen und bewusst zu machen. Motive zum Suizid sind individuell verschieden, dennoch spielen innere Bilder und Vorbilder bei vielen suizidalen Menschen eine große Rolle, üben eine Anziehungskraft aus. Indem der Betroffene dies in Worte fassen lernt, entsteht die Chance der Prüfung von Alternativen. Dies hilft nur, wenn es durch den suizidalen Menschen selbst geschieht, als Therapeuten können wir mithilfe von Akzeptanz der suizidalen Zuspitzung den Raum neben der Verzweiflung öffnen, wo andere Freiheiten als die der Selbsttötung ausgeübt werden können.
Schlüsselwörter: Heinrich von Kleist, Deutscher Dichter 1777-1811, Biographie, Doppelsuizid, Prominentensuizid, Nachahmungssuizid, Therapeutische Überlegungen
Summary
Two Hundred Years Ago
The German poet Heinrich von Kleist (1777-1811) was of aristocratic descent. Throughout his short life he travelled continuesly, searching for possibilities to live as a writer. After the early loss of his parents, without any economic security, he started a military career as a prussian officer, left the army already at the age of 22. He created some of the most popular german theatre plays like: Die Marquise von O..., Penthesilea, Amphytrion, Der Prinz von Homburg. He also wrote some famous storries, for example: Michael Kohlhaas. Not at least he invented a new kind of journalism in Berlin 1809-11, the Berliner Abendblätter.
Since his early years at school one finds reports about his demand to find a friend for committing suicide together. Historians do not know what kind of sexual orientation Kleist had, quite sure, he never lived in a satisfying relationship. After severe conflicts with his sisters and as a result of troubles with the authorities he met a woman who was also looking for someone to die with. Both of them left many fascinating farewell letters to friends and relatives and then put their suicide into scene close to the lake Wannsee in Berlin on the 21st of Novembre 1811 - two hundred years before now. The question wether his fame is mainly due to this dramatic event can not be answered.
Implications for the media, how to deal with different types of celebritiy-suicide are discussed. Consequences for psychotherapy might lie in using this particular biography to show acceptance concerning the desperation of suicidal patients. This could help them to find alternatives to suicide.
Key words: Heinrich von Kleist, German Poet 1777-1811, Biography, Double-suicide, Celebrty-suicide, Copycatsuicide, therapeutic regards
1. Prominentensuizid
Einleitend möchte ich festhalten, dass meines Erachtens der Prominentensuizid auch eine öffentliche Auseinandersetzung braucht und wir als Psychiater uns nicht scheuen sollten, dazu Stellung zu beziehen, denn für Suizid gilt, dass wir mit den davon Betroffenen, und das sind üblicherweise bei unseren Patienten vor allem deren Angehörige, das Gespräch suchen sollten. Wir können Angebote zur Verarbeitung machen, man denke etwa an Gruppen auf Stationen nach Suiziden oder Versuchen der Selbsttötung. Es gilt, den Menschen dabei zu helfen, die Gefühle in Worte zu fassen, die in der Folge eines Suizids auftreten. Sehr gute Arbeitet leisten hier auch die unter dem Titel AGUS e.V. zusammengefassten Selbsthilfegruppen. Der Kreis der Betroffenen reicht allerdings bei Berühmtheiten sehr viel weiter, nämlich in die Öffentlichkeit und das über unterschiedliche große Entfernungen und Zeiträume. In diesem Zusammenhang wurde (vergl. Gonther 2007) auf die öffentlichen Versammlungen junger Menschen nach dem Tod von Kurt Cobain 1994 hingewiesen, welche in dessen Wohnort Seattle ebenso wie an vielen anderen Orten der Welt abgehalten wurden, teilweise mit professioneller Unterstützung, teilweise ohne solche. Die daran anschließend registrierte erstaunliche Senkung der Suizidraten in der Folgezeit, gerade in der Risikogruppe seiner Fans, wird damit verständlich als Gegenbeispiel zu den sonst beobachteten Phänomenen der Häufung von Suiziden nach vermehrter medialer Aufmerksamkeit (zum Werther-Effekt siehe Schmidtke 1986).
Bei der psychiatrischen Bearbeitung von Prominentensuiziden gelten gewisse Regeln des Anstands, die ich auch hier im Falle des vor 200 Jahren ums Leben gekommenen Kleist einhalten möchte. Es ist wichtig, beim Versuch einer Deutung die betreffende Person nicht zu diffamieren. Generell sollte kein Mensch, auch nicht ein berühmter Künstler, durch psychiatrische Betrachtungen herabgewürdigt, sondern als Mensch in seinen Entscheidungen besser verstehbar gemacht werden. Dann können wir von einer exemplarischen Biographie auch aus den dunklen Stunden des Lebens sehr viel lernen.
Im Falle von Menschen, die nicht durch ihre künstlerischen Leistungen sondern durch Sport oder anderes berühmt geworden sind und dabei ja immer ihr Menschsein auch zur Schau gestellt haben, gehört die Deutung der möglichen seelischen Zusammenhänge nicht so explizit in die öffentliche Diskussion, führt gelegentlich zu Missverständnissen. Der Anstieg der Bahnsuizide in Deutschland im Jahr nach dem Tod von Robert Enke könnte damit zu tun haben, dass in diesem Falle eine Thematisierung einseitig im Sinne des "armen Opfers der Verhältnisse" stattfand, womit eine Idendifikation für andere Menschen in depressiv-suizidaler Verfassung begünstigt werden kann. Anders gelagert aber auch problematisch war die mediale Thematisierung des Suizids von Gunter Sachs, da bekam man den Eindruck, er würde als positives Beispiel für den Umgang mit einer Demenz-Frühdiagnose hingestellt. Das Idealisieren des Suizids erkennt man an der unkritischen Verwendung des Wortes: Freitod. Vereinfachend lässt sich sagen, dass jeder Suizid ein Nachahmungssuizid ist, wobei der Nachahmungsanteil unterschiedlich stark ist. Dieser Anteil Nachahmung wird durch unkritische Berichte getriggert und kann den Anstoß für eine suizidale Handlung geben, deshalb ist ein differenzierter Umgang mit dem Thema in den Medien so wichtig.
Mit Beschreibungen der psychischen Konstellationen von Künstlern oder Philosophen, die sich mit ihren Botschaften aus dem Erleben des eigenen Inneren an alle Menschen gerichtet haben, kommt den Psychotherapeuten die Aufgabe eines Übersetzers zu. Der Öffentlichkeit, die sich hier als Angehörige betroffen fühlen kann, dürfen Verständnisangebote gemacht werden. Hier kommt es darauf an, weder die Person noch das Werk der Betreffenden zu entwerten. Darüber hinaus sollten die Medien auch die Hinterbliebenen und unfreiwillig Beteiligten, wie etwa Lokführer und Rettungskräfte, zu Wort kommen lassen. Dann werden in aller Regel keine Verklärungen passieren, sondern auch aggressive Gefühle von Angehörigen formuliert. Die Angehörigen von Suizidenten stellen eine besonders gefährdete Gruppe für Folge-Suizide dar. Die Aufklärung dient in diesem Falle unmittelbar der Prävention. Dazu geeignet scheinen mir Interpretationen, die grundsätzlich eine Sympathie für den Künstler und eine Affinität zu seinen Schöpfungen mitbringen oder mindestens eine Neutralität, die es aber gegenüber echter Kunst nicht gibt. Eine so verstandene Psychobiographie will nicht mit Hilfe von Fachwissen jemanden vom Sockel stoßen, sondern, bildlich gesprochen, die Inschrift des Denkmals erläutern.
2. Wer war Heinrich von Kleist?
Die Angaben zur Lebensgeschichte stammen im Wesentlichen aus der aktuellen Biographie von Blamberger, ergänzt durch die Bücher von Carpi und Michalzik (alle drei aus 2011).
Heinrich von Kleist wurde 1777 geboren, gehört also in die Zeit der Dichter und Denker, wie Goethe, Schiller, Hölderlin, Novalis, Schlegel, Schleiermacher, Brentano, Schelling und Hegel und viele andere mehr. Er war ein deutscher Dichter, Schriftsteller, Journalist, Herausgeber, politisch aktiv, Kritiker, kurz gesagt ein Intellektueller. Aber er war auch erst Soldat und dann Kriegsdienstverweigerer, er war Reisender, womöglich Geheimagent, inhaftiert von den Franzosen, konnte der preußischen Inhaftierung durch ein ärztliches Zeugnis bezüglich psychischer Labilität entgehen. Heinrich von Kleist war ein früher Aussteiger, versuchte sich als Bauer, war in seinem Leben immer unterwegs, war von der Zensur verfolgt und zugleich persönlich mit dem König bekannt, kurzum eine wirklich schillernde, vielfältig im Leben verstrickte Gestalt. Über ihn als Menschen wissen wir, dass er von seinen Freunden und Zeitgenossen als ehrgeizig, ruhmsüchtig, expressionistisch, tief religiös, im Kontakt fordernd und zugleich sehr scheu, abwechselnd still und aufbrausend, gelegentlich sogar tobsüchtig und immer wieder todessehnsüchtig beschrieben wird. In der Liebe zu Frauen und Männern war er unglücklich und ohne jemals in einer längeren Partnerschaft leben zu können.
Die Familie von Kleist zählt zum pommerschen Uradel, brachte mehrere Generäle und außer Heinrich einen weiteren Dichter hervor, nämlich Ewald Cristian von Kleist (1715-1759). Heinrich war der erste Sohn seiner Eltern, hatte einen jüngeren Bruder und vier Schwestern. Er wurde, wenngleich der Vater, der keine große Karriere beim Militär gemacht hatte und erst spät zum Major befördert wurde, nicht wohlhabend war, standesgemäß von einem Hauslehrer, dem Theologen Christian Ernst Martini erzogen. Diese Erziehung durchlief er gemeinsam mit seinem Vetter Karl-Otto von Pannwitz. Trotz ihrer Unterschiede ist von beiden bekannt, dass sie sich gut vertragen haben. Es gibt Berichte darüber, wie die Jungen in ihrer Schulzeit schon Pläne für einen gemeinsamen Suizid gemacht haben. Karl-Otto von Pannwitz führte diesen dann allein bereits 1795 durch, Heinrich von Kleist folgte 1811. Martini beschrieb Pannwitz als ruhig und zurückgezogen und Kleist als Feuerkopf mit rascher Auffassungsgabe und großer motorischer Unruhe, der sich nicht lange mit einem Thema beschäftigen wollte. Nach dem Tod des Vaters wurde Heinrich in Berlin vom Prediger Catel weiter erzogen, bevor er als Zugeständnis des Königs Friedrich Wilhelm II. (1744-1797), welcher der Mutter einen Großteil ihres Erbes verwehrt hatte, in ein Garderegiment eingezogen wurde. Der Junge nahm bereits mit 15 Jahren an Kriegshandlungen gegen die Franzosen teil, unterbrach seinen Fronteinsatz wegen des Todes der Mutter. Es finden sich zudem biographische Hinweise auf seine sexuelle Traumatisierung in der Armee. Heinrich war zunächst ein enthusiastischer Kämpfer. Später, während seiner Garnisonszeit in Potsdam (1795-99), kam er zur Reflexion seiner Situation und wandte sich erst in Briefen an seinen verehrten Lehrer Martini, dann in einem Brief an den König vom Militär ab und äußerte, dass er als Mensch Besseres tun wolle als andere Menschen zu töten (Soldatenkrise). Dies war ein außergewöhnlicher und radikaler Schritt für einen 22-jährigen mittellosen Aristokraten, zeugt aber auch von seinem großen Selbstbewusstsein. Zitat aus dem Brief an Ulrike von 1800 zu dieser Episode: "... wenn er meiner nicht bedarf, so bedarf ich seiner noch weniger. Denn mir mögte es nicht scher werden, einen anderen König zu finden, ihm aber, sich andere Untertanen aufzusuchen." In dem Konflikt zeigt sich ebenfalls Kleists gespanntes Verhältnis zu seiner adeligen Herkunft, zeitweise führte er den Namenszusatz "von" nicht. Andererseits war er bis zu seinem Tod ein "Mann von Ehre", so forderte er den Regierungsrat von Raumer bei Auseinandersetzungen um seine Zeitung im Februar noch 1811 zum Duell. Der nahm an, das Duell konnte nur durch den Staatskanzler von Hardenberg verhindert werden.
Der König Friedrich Wilhelm III. (1770-1840) stimmte 1799 der gewünschten Demission schließlich zu, jedoch nur unter allerlei Bedingungen. Was folgte war für Heinrich von Kleist eine Phase des Studiums von Kunst, Kultur und Musik. Er war ein begabter Klarinettenspieler, bewegte sich in den gebildeten Kreisen von Berlin und Frankfurt an der Oder, wollte Naturwissenschaftler werden und verfasste einen philosophischen Aufsatz über den "sicheren Weg, das Glück zu finden und ungestört auch unter größtem Drang seines Lebens ihn zu genießen". In diesem Text, der allgemein als sein erstes Werk gilt, diskutiert er die damals populäre Vorstellung eines "Lebensplanes", dem es zu folgen gelte. Kleist verpflichtet sich, ein ziviles Amt in der preußischen Verwaltung anzunehmen, was er jedoch nicht gerade ernsthaft verfolgen wird, er verlobt sich standesgemäß mit der Generalstochter Wilhelmine von Zenge, die er allerdings nie heiraten wird. Im Jahr 1800 unternimmt er eine bis heute in ihren Zwecken ungeklärte Reise. Die Berichte darüber weichen stark von einander ab. Manche Biographen bezeichnen es als politische Mission, andere als Versuch, medizinische Abhilfe bei einer Geschlechtskrankheit oder Phimose zu finden. Während dieser Reise, die anfangs glücklich zu verlaufen scheint, "ich bin neugeboren" schreibt er der Verlobten, entfernt sich Kleist offensichtlich dann von seinem Plan, seiner Wilhelmine ein sozusagen normaler Ehemann zu werden. Er schreibt ihr 1801 "es ist ekelhaft zu leben", fordert sie auf, zu ihm in die Schweiz zu kommen, um sich gemeinsam als Bauern zu versuchen. Etwas, dass sie verständlicherweise, da beide davon keine Ahnung hatten, ablehnt. Daraufhin gerät er zunehmend in eine Krise, da er im Zusammenhang mit seiner Kant-Lektüre nun meint, dass wahre Erkenntnis für den Menschen auch durch Wissenschaft nicht möglich sei (Kantkrise). Gemeinsam mit seiner Schwester Ulrike reist er nach Paris, um sich dort ins Leben zu stürzen. Der junge Mann verehrt Rousseau und schreibt sein erstes Drama, welches er seinen Freunden vorliest und damit Begeisterung und Entsetzen zugleich auslöst. Eine solche Sprache hatte man bis dahin noch nicht gehört. Vom Erfolg im kleinen Kreis motiviert, dichtet er ein Drama, welches nie veröffentlicht werden sollte, Robert Guiskard. Die Manuskripte dazu verbrennt er wenig später, vorher waren andere davon begeistert und sehen in ihm die große Hoffnung für die Dramendichtung in Deutschland; wie wir heute wissen, zu Recht.
1802 schreibt Kleist in einem Brief an seine Schwester "ich stürze mich in den Tod" und "ich werde den schönen Tod der Schlachten sterben". Er dient sich der französischen Armee an, die allerdings seine Einstellung ablehnt, will dann zurück nach Preußen, wird auf dem Weg durch Mainz 1803 von Dr. Wiedekind vermutlich für mehrere Monate behandelt, schließlich als psychisch labil diagnostiziert, womit er einer drohenden Verhaftung in Preußen entgeht. 1804 bis 1807 ist er offiziell als Amtmann in Königsberg angestellt, in diese Zeit fällt die Produktion vieler seiner schriftstellerischen Arbeiten, Dramen, Aufsätze und Novellen. 1807 gerät er in französische Gefangenschaft, wo er weiter schreibt, wird nach einigen Monaten entlassen, erhält dann anschließend zur Feier seines 30. Geburtstags von seinen Freunden einen Lorbeerkranz aufgesetzt. Diese wahrscheinlich lustig gemeinte Geste hat für ihn große Bedeutung, denn als persönlichen Ehrgeiz hatte er einmal bezeichnet, Goethe den Lorbeerkranz von der der Stirn zu reißen, um diesen sich selber aufzusetzen. Von 1807 bis 09 lebt er in Dresden. In dieser Phase steigert sich Kleist in patriotische Vorstellungen hinein und schreibt die "Hermannschlacht". Im Jahre 1808 wird "Der zerbrochne Krug" in Weimar unter der Regie von Goethe uraufgeführt, fällt beim Publikum durch und wird von der Kritik verrissen. Kleist blieb davon überzeugt, dass Goethe ihn damit ruinieren wollte. Der Unmut des Publikums richtete sich ganz gegen den Autoren, obwohl der Regisseur erhebliche Änderungen vorgenommen hatte. Ab 1809 zieht er dann nach Berlin, beginnt bald mit der Veröffentlichung der ersten Berliner Tageszeitung, "Berliner Abendblätter", für die er selber viel beiträgt und verfasst das Drama "Prinz Friedrich von Homburg", welches vom Hof bestellt und direkt mit Spielverbot belegt wird. Als er wirtschaftlich in immer größere Schwierigkeiten kommt, bittet er den König um Wiederaufnahme beim Militär. Der König lehnt dies Ansinnen ab. Nur für den Fall des Krieges gegen Frankreich würde er Kleist einstellen, gleichzeitig fanden jedoch erfolgreiche Friedensverhandlungen statt. Für Kleist schließt sich gleichsam hier ein Kreis, vom Kindersoldaten, der den Frieden herbeisehnt, vom Militärverweigerer ist er nun wieder zum Freiwilligen, der sich den Krieg wünscht, geworden. Was sagt uns das über die Richtung in seinem Lebensplan? Sie änderte sich...
3. Kleists Suizidalität
In seinen Werken spielt Selbsttötung und Opfertod fast durchgängig eine zentrale Rolle, so in: "Das Erdbeben zu Chili", "Michael Kohlhaas", "Penthelisea". In der Novelle "Die Verlobung in St. Domingo" beschreibt er am Ende gar einen Doppelsuizid. Bemerkenswert erscheint mir hier die fast vergessene Erzählung "Der neuere (glücklichere) Werther" von Januar 1811, in den Abendblättern anonym publiziert. Sie zeigt, dass er es durchaus versuchte, dieses unglaublich ernste Thema humorvoll zu variieren: Ein jugendlicher Liebhaber geht, als seine Angebetete und ihr alter Mann verreist sind, und legt sich in deren Bett, um sich dort zu erschießen, der Schuss tötet ihn nicht, sondern lässt ihn blutend zurück. Die Eheleute kehren heim, der alte Gatte erleidet beim Anblick des Verletzten einen "Schlagfluss" und stirbt. Der Weg ist für die Verliebten frei, sie tun sich zusammen und leben glücklich miteinander... Doch im echten Leben geht es für Kleist nicht so heiter weiter: bereits im September 1811 formuliert er in einem Brief an seine Cousine Marie von Kleist, die zunehmend an die Stelle der Schwester, die sich von ihm abgewandt hat, als beste Freundin tritt, "es ist auch nicht mehr ein einziger Lichtpunkt in der Zukunft, auf den ich mit einiger Freudigkeit oder Hoffnung hinaussehen kann". Materiell ist er in dieser Phase in großer Schwierigkeit, die Berliner Abendblätter muss er einstellen, nachdem der Druck der Zensur auch die Abonnenten vertrieben hat In der Berliner Gesellschaft hat er Henriette Vogel kennengelernt. Seine neue Freundin, die sich wegen einer Krebsdiagnose selber töten will, ist bekannt für ihre schwärmerische Art. Sie ist verheiratet und Mutter einer Tochter. Es heißt, der Ehemann teilte ihre künstlerischen Interessen nicht. Damit hat Kleist nun endlich die Partnerin seines Lebens, nämlich die zum Sterben gefunden. Bereits als Kind hat er gemeinsam mit Otto von Pannwitz beschlossen, zusammen sterben zu wollen. Nachdem dieser sich bereits 1795 tatsächlich suizidiert hatte, suchte Kleist nach einem Gegenüber für den Tod. Konkret fragte er bei Marie von Kleist und seinen Freunden Fouqué und von Rüel in dieser Sache an, fand jedoch dort keine Zustimmung. Neuerdings (durch A. Michalzik 2011) wieder bekannt ist seine Faszination für das Gemälde: "Sterbende heilige Magdalena" von Simon Vouet (1590-1649), welches er 1807 in der Kirche von Chalons-sur-Marne in Frankreich gesehen hatte und worüber er berichtete, wie sehr es ihn beeindruckt hatte, wegen der schönen Haltung der Toten und der sicheren Rettung durch Engel, die augenblicklich zur Stelle sind, um die Heilige in den Himmel zu geleiten. "Ich habe nie etwas Rührenderes und Erhabeneres gesehen." Auf Knien und in Rückenlage, so sollten auch die Leichnahme der beiden gefunden werden in einem suizidalen Arrangement, einer Inszenierung, die heute vor 200 Jahren Berlin und viele Menschen in Europa erschütterte. Wieder griff der preußische König ein und setzte durch, dass keine Interpretationen dieses Suizids in den Zeitungen erscheinen durften. Die waren bereits von befreundeten Autoren wie Christoph Peguilhen (1769-1845) angekündigt, versehen mit der Bitte, "nicht zwei Wesen lieblos zu verdammen, welche die Liebe und die Reinheit selbst waren...", blieben aber aus, so nachdrücklich wirkte das Verbot. Man fürchtete eine Suizidwelle.
Was war zuvor geschehen? Am 20.11.1811 mieten sich die beiden im Gasthof "Neuer Krug" des Wirtes Stimming am Wannsee ein, vorher hatten sie schon einige Abschiedsbriefe abgeschickt. Sie verbringen die Nacht damit, sich gegenseitig Briefe zu schreiben und richten weitere Schreiben an einige enge Verwandte und Freunde. Anna Maria Carpi hat in ihrer einfühlsamen Biographie (2011) darauf hingewiesen, dass besonders die gegenseitigen Suizidbriefe in ihrer Art in der Weltliteratur einzigartig sind. Die beiden sich dem Tode Weihenden trinken dabei viel Kaffee und Wein, am Morgen fallen sie noch durch Scherze den Angestellten auf, Kleist spricht von der "fröhlichen Luftschifferstimmung, die uns von der Welt enthebt", in der sich beide befunden hätten, dann lassen sie sich mittags nach einem letzten Mahl von den Bediensteten einen Tisch und zwei Stühle in eine Mulde in der Uferlandschaft bringen und dort Kaffee servieren. Während die durch Kleist fortgeschickten Dienstleute zum Gasthof gehen, hören sie die zwei Pistolenschüsse, die mit einigem Abstand erfolgten. Zurückgekehrt zum Ort des Geschehens finden sie Henriette Vogel mit einem Schuss ins Herz getötet und Heinrich von Kleist mit der Pistole im Mund und durchschossenem Kopf. Die Szene erregte sofort großes Aufsehen. Es folgte rasch die Obduktion der beiden Toten ohne große Besonderheiten. Der Bericht wirkt in der, womöglich auf Anforderung erstellten, zweiten Fassung etwas überengagiert in dem Sinne, an Kleists Organen Auffälligkeiten zu beschreiben; auch die Verdachtsdiagnose des Uteruskarzinoms bei Henriette Vogel geht aus dem Protokoll nicht deutlich hervor. Insgesamt findet sich vor allem bestätigt, dass die Tötungen präzise durchgeführt worden waren. Gemäß dem Wunsch von Henriette Vogel wurden die Körper schon am übernächsten Tag an der Stelle ihres Todes beigesetzt, denn geweihte Erde kam für "Selbstmörder" nicht in Frage. Bis heute lässt sich dort das "Kleistgrab" besuchen, das gerade im Jahr 2011 zum 200sten Jahrestag aufwändig restauriert worden ist. Wie könnte es bei Heinrich von Kleist anders sein, sogar das Grab machte noch eine Wanderung von mehreren hundert Metern, im Laufe der Zeit geriet es mal in Vergessenheit, mal wurde es pompös ausgestattet. Die Inschrift lautet:
Nun,
O Unsterblichkeit,
Bist Du ganz mein
4. Epilog
Wie können wir dieses Paradox: "Unsterblichkeit durch Suizid" verstehen, interpretieren oder einfach nur aushalten? Kleist versuchte, seine Schwester Ulrike vorab im Abschiedsbrief zu trösten, indem er ihr schrieb: "Du hast an mir getan, ich sage nicht, was in den Kräften einer Schwester, sondern in Kräften eines Menschen stand; um mich zu retten: die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war." Nun, wir wissen, dass dieser Trost wenig half. Sie machte sich noch Jahre später schwere Vorwürfe. Viele Biographien schildern sie als hart und streng. Wahr ist wohl, dass sie, die nie geheiratet hat und gern in Männerkleidung auf Reisen ging, sich wie eine Mutter um Heinrich gekümmert hat. Im Sommer waren die beiden wegen Heinrichs beruflicher Misserfolge vor Zeugen aus der Verwandtschaft heftig aneinandergeraten, was zu einem Zerwürfnis führte. Nach seinem Tod baute Ulrike eine Mädchenschule auf. Im Alter soll sie einsam gewesen und psychisch sehr auffällig geworden sein, erlitt einen schweren Zusammenbruch, wurde stationär in Frankfurt an der Oder psychiatrisch behandelt. Damals sagte Ulrike, dass Goethe und sie selber ihren Bruder zum Suizid getrieben hätten. Henriette Vogels Witwer heiratete schnell wieder und ist historisch nicht weiter aufgefallen... Die Tochter Pauline, damals 10 Jahre alt, starb erst 1893. Ihre Nachfahren leben noch heute. Vom Schicksal der entfernteren Verwandten ist mir nichts bekannt. Die Öffentlichkeit nahm unmittelbar regen Anteil an dem Ereignis. Es bildete sich eine Tradition heraus, Kleist als realen Werther zu betrachten, der überspannt und unstet, wohl wegen fehlenden Erfolgs sich selber tötete, weil er ein solches Leben ohne Ruhm nicht aushalten konnte. Unmittelbare Nachahmungssuizide sind nicht bekannt, wenig bekannt ist die bizarre Imitation durch Johannes R. Becher 1910 im Alter von 19 Jahren, der seine Geliebte tötete, selber einen Schuss auf seinen Oberkörper überstand, freigesprochen wurde und nach dem Exil in der DDR als Kulturminister und Staatsdichter jenes anderen preußischen Staates Karriere machte. Während des 19. Jahrhunderts war Kleist anscheinend, ähnlich wie sein Zeitgenosse Hölderlin, ein Negativ-Beispiel für das Establishment und eine Art Idol für romantisch orientierte Seelen. Seine Werke verschwanden jedoch nicht aus der Diskussion und erlebten um den hundersten Todestag eine erste Renaissance, die auch durch Vereinnahmungsversuche seitens nationaler oder gar nationalsozialistischer Kreise nicht wieder enden sollte. Im Gegenteil, weltweit ist Heinrich von Kleist in diesem Jahr, da sich der Tag des inszenierten Suizids das zweihunderste Mal jährt, populärer und präsenter als je zuvor.
Ab 1900 gibt es auch zwei, bis heute interessante, miteinander konkurrierende psychodynamische Interpretationen von Rahmer (Rahmer 1909) und Sadger (Sadger 1910), die beide damals bereits sexuelle Komplexe als zu Grunde liegendes Problem benennen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Aufführungen der Stücke auf beiden Seiten der Mauer sehr beliebt und kaum jemand in Deutschland macht Abitur, ohne "Michael Kohlhaas" und den "zerbrochnen Krug" kennengelernt zu haben. Politisch lässt sich Kleist insgesamt schlecht vereinnahmen, vielleicht deshalb, da er in erster Linie Aufklärer menschlicher Konflikte war und sich selber mit seiner gemischt konservativ-liberalen Weltanschauung keiner Partei zuordnete. Aus psychiatrischer Sicht ist aus jüngerer Zeit (1991) die Arbeit von Hinderk Emrich "Ein Krug-Zer-Bruch-Buch" bekannt und neben einem Aufsatz von W. Schmidbauer "Kleists Narzissmus" für die Kleist-Gesellschaft (2008) möchte ich das Kleist-Kapitel in Jann E. Schlimmes Suizidmonographie: "Verlust des Rettenden oder letzte Rettung" hier erwähnen (Schlimme 2010).
Jaques Lacan hat in Bezug auf die Strafe der Antigonae, lebendig im Grab ihres Bruders eingemauert zu werden, vom "Zweiten Tod" vor dem ersten durch das Herausfallen aus dem System der Zeichen ins Nichts gesprochen (Gallas 2005). Gerade diesen Tod durch das Verlöschen erleiden die Helden in Kleists Werken, darin der Antigonae ähnlich, aber nicht. Auch er selber bleibt davon bislang - anders als normal Sterbliche - verschont. Die Frage kann nicht beantwortet werden, welchen Beitrag die dramatische Inszenierung am Wannsee an dieser Unsterblichkeit hat oder ob die fraglos faszinierenden Werke dem Autoren auch allein den Ruhm gesichert hätten.
Aus psychotherapeutischer Sicht bleibt zu resümieren, dass Heinrich und Henriette an ihrem Ruhm vermutlich keine Freude mehr verspüren konnten, ihre Angehörigen dagegen hatten sicher einiges an Leid. Das Kleistsche Suizidprogramm im Sinne einer self-fullfilling-prophecy schien durch die Begegnung mit Henriette Vogel in einer objektiv schwierigen und subjektiv verzweifelten Situation unaufhaltsam zur Verwirklichung zu drängen. Gegenargumente für den Verstand oder alternative Gefühle, wie die Möglichkeit der gelingenden Liebe, waren ihm bezogen auf sein Leben ausgegangen. So suchte er den "sicheren Weg sein Glück zu finden" in Tötung auf Verlangen und Suizid. Ungeklärt bleibt, welchen Sog seine privat-religiösen Jenseitsvorstellungen ausübten Ein Tod allein durch Worte war auch dieser Tod nicht, denn Pistolenkugeln zerstörten die beiden jungen Menschenleben. Wie glücklich mag er sich zwischen den beiden Pistolenschüssen gefühlt haben?
Literatur
Blamberger, G. (2011). Heinrich von Kleist. Frankfurt a. M.: Verlag S. Fischer.
Carpi, A.M. (2011). Kleist. Ein Leben. Berlin: Insel-Verlag.
Emrich, H.M. (1991). Ein Krug-Zer-Bruch Buch. München: Imago.
Gallas, H. (2005). Kleist, Gesetz, Begehren, Sexualität. Frankfurt a.M.: Stroemfeld-Verlag.
Gonther, U. (2009). Suizid als Nachahmung? Nirvana. Smells Like Teenspirit. Leben und Tod des Rockstars Kurt Cobain. Sozialpsychiatrische Informationen, 39, 2-5.
Kleist, H. von (2010). Sämtliche Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Reuß, R. und Staengele, P., 3 Bände. München: Hauser.
Michalzik, P. (2011). Kleist - Dichter, Krieger, Seelensucher - Biographie. Berlin: Propylaen-Verlag.
Rahmer, S. (1909). Heinrich von Kleist. Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschung. Berlin, Reiner, Reprint: Heilbronn. Kleist-Archiv Sembder 2008.
Sadger, I. (1910). Heinrich von Kleist: Eine pathographisch-psychologische Studie. Wiesbaden: Verlag J.F. Bergmann.
Schlimme, J.E. (2010). Verlust des Rettenden oder letzte Rettung. Freiburg i. Breisgau: Verlag Karl Alber.
Schmidtke, A. & Häfner, H. (1986). Die Vermittlung von Selbstmordmotivationen - Selbstmordhandlung durch fiktive Modelle. Nervenarzt, 57.
Schmidtbauer, W. (2008). Kleists Narzissmus. Vortrag bei der Kleistgesellschaft. Internet.
Dr. med. Uwe Gonther
Chefarzt PII
Zentrum für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
Klinikum Bremerhaven Reinkenheide gGmbH
Postbrookstr. 103
27574 Bremerhaven
Uwe.Gonther@Klinikum-Bremerhaven.de
Uwe Gonther; Dr. med.; Chefarzt der Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Bremerhaven; Veröffentlichungen über Sozialpsychiatrie, Psychiatriegeschichte und philosophische Fragen der Psychiatrie, gemeinsam mit Jann E. Schlimme Herausgeber des Buches "Hölderlin und die Psychiatrie", Bonn, Psychiatrie-Verlag. 2010.