Angelika Pillen
[Journal für Philosophie & Psychiatrie, September 2011, Original paper]
Zusammenfassung
Die wachsende Zahl von an Demenz erkrankten Personen stellt unsere Kultur vor große Herausforderungen. Die Vorstellung, an Demenz zu erkranken, löst tiefe Ängste aus, weil der Demenzkranke wie keine andere Gestalt die Zerbrechlichkeit jener Werte vergegenwärtigt, über die unsere Kultur sich positiv bestimmt. Eine phänomenologische Annäherung an die Welt der Demenzkranken ermöglicht es, sich von dem ausschließlich an den Defiziten orientierten Blick auf die Krankheit zu lösen. Der Demenzkranke gibt uns die Chance zu sehen, dass Autonomie und Selbstbestimmung nicht das Ganze unserer Existenz ausmachen.
Schlüsselwörter: Phänomenologie, Demenz, Autonomie, Kultur der Postmoderne
Abstract
Dementia and postmodernityThe growing number of persons with dementia illness is a big challenge for our culture. The idea to get a dementia evoques great fear, because the person with dementia represents the fragility of those values that determine our culture positively. A phenomenological approach to the world of dementia makes it possible to leave the position that sees nothing but the deficits of an illness. The person with dementia gives us the chance to see that autonomie and self-determination don´t determine the whole of our existence.
Key words: Phenomenologie, dementia, autonomie, culture of postmodernity
Der Fall Walter Jens
Vor etwa zwei Jahren wurde bekannt, dass Walter Jens, einer der prominentesten Vertreter des bundesrepublikanischen Geisteslebens, an Alzheimer erkrankt ist. Nicht zuletzt entzündet durch eine Publikation des Sohnes Tilman zum Schicksal des Vaters, löste der Fall eine vehemente Diskussion aus. Tilman Jens läßt uns in seinem Buch Demenz. Abschied von meinem Vater, an dem mit der Krankheit einhergehenden Veränderungsprozess teilnehmen, der den letzten Lebensabschnitt seines Vaters prägt. Wir können mit verfolgen, welch bitteres Schicksal es für die Angehörigen ist, dem Prozess des zunehmenden Verlustes der kognitiven Funktionen beizuwohnen.
Besonders betroffen macht im Falle Walter Jens die Tatsache, dass der ehemalige Professor für Rhetorik sich, noch im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten, sehr klar und deutlich für aktive Sterbehilfe ausgesprochen hat, sollte er eines Tages an Alzheimer erkranken. Der Sohn erinnert sich an eine Kahnfahrt auf dem Neckar, auf der das Thema zur Sprache kam.
"Wenn die Autonomie nicht mehr im Zentrum steht", so Walter Jens damals zu seinem Sohn, "wenn ich nicht sagen kann, Tilman, du siehst selbst, es ist an der Zeit, - ich sage [mit Friedrich Hölderlin], April, Mai und Junius sind ferne, ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne.... Dann möchte ich das mir von Gott geschenkte Leben zurückgeben." (Jens, 2009, S.6 ) Was ihm Angst machte, so der Sohn, war die Vorstellung, einer unheilbaren Krankheit, einem endlosen Siechtum wehrlos ausgeliefert zu sein. Walter Jens dazu: "Ich will sterben, nicht gestorben werden." (ebda.)
Sieben Jahre später ist genau diese Situation eingetreten: Walter Jens, nicht nur ein vehementer Verfechter des Autonomieprinzips, sondern sogar Verfechter von aktiver Sterbehilfe im Falle einer Krankheit, die dieses Prinzip ausser Kraft setzt, ist selber Opfer eben jener Krankheit geworden, die den Geist zerstört, über den er sein Leben lang seine Identität bestimmt hat.
Die Haltung zur Demenz in unserer Kultur
Die Haltung, die Walter Jens in seinen gesunden Tagen gegenüber der Alzheimer-Krankheit eingenommen hat, ist keine besonders außergewöhnliche Haltung, sie ist repräsentativ für unsere Kultur. Die Vorstellung, an seinem Lebensende von Demenz betroffen zu sein, ist für so gut wie alle Menschen unserer Kultur eine Schreckensvorstellung. Was ansonsten im Verlaufe des Sterbeprozesses in wenigen Tagen abläuft, zieht sich bei einer demenziellen Erkrankung unter Umständen über Jahre hin, es ist ein Prozess, bei dem die geistige Existenz lange vor dem Erlöschen der vitalen Körperfunktionen allmählich zugrunde geht (vgl. Lauter, 2005, S.10) Wir können, wie Hans Lauter es einmal drastisch formuliert hat, dem Tod bei der Arbeit zusehen (vgl. ebda). Nach und nach vernichtet die Demenz das Gedächtnis, die Sprache, das Zeit- und Raumerleben, die Selbstwahrnehmung und die Fähigkeiten zu planvollem Handeln, also all jene Fähigkeiten und Funktionen, die unserer Autonomie zugrunde liegen und über die wir unsere Identität bestimmen.
Das ist nicht nur ein medizinisches Problem. Es ist von fundamentaler Bedeutung für unsere Kultur, dass wir aufgrund der demografischen Entwicklung damit rechnen müssen, in Zukunft immer mehr an Demenz erkrankte Menschen versorgen zu müssen. Die damit verbundenen Aufgaben erfordern Anstrengungen, die weit über das hinausgehen, was von der Medizin geleistet werden kann.
Um die Tragweite des Problems zu erkennen, müssen wir zunächst die symbolische Bedeutung der Demenz für unsere Kultur in den Blick nehmen.
In der postmodernen westlichen Kultur, die die Autonomie in Verbindung mit der Möglichkeit zur individuellen Selbstbestimmung zu ihren grundlegenden Werten erklärt hat, ist der Demenzkranke eine Gestalt, in der eine fundamentale Bedrohung dieser Werte gegenwärtig wird. Das macht ihn selbst zu einer bedrohten Gestalt. Es besteht die Gefahr, daß er für die westlichen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts das sein wird, was für die Gesellschaft der beginnenden Neuzeit die Gestalten der Unvernunft waren. Wie Michel Foucault uns in seiner Studie Wahnsinn und Gesellschaft gezeigt hat, versichert sich die abendländische Kultur ihrer selbst und ihrer Werte, indem sie das, was sie als diesen Werten nicht entsprechend betrachtet, ausgrenzt (vgl. Foucault, 1973, S.7ff.) Obwohl Foucaults Analyse ein halbes Jahrhundert alt ist, haben seine Befunde zur Struktur und zur Logik der Konstitution unserer Gesellschaft nach wie vor Gültigkeit. Denn nach wie vor gibt es die Strukturen der Exklusion, sie beziehen sich in der Regel auf Phänomene, die als Bedrohungspotential für diejenigen Werte wahrgenommen werden, über die unsere Kultur sich positiv bestimmt.
Der Demenzkranke könnte in diesem Foucaultschen Sinne zur negativen Symbolfigur für unser Zeitalter werden. Er ist nicht nur deswegen eine Projektionsfläche tiefgehender Ängste, weil er die lebende Präsenz des Todes ist, sondern auch deswegen, weil er die Fragilität aller unserer narzißtischen Selbst-Ideale sichtbar macht, weil er uns daran erinnert, daß die inneren Strukturen, auf denen unsere Autonomie und Souveränität beruhen, ein kontingentes und verletzliches Konstrukt darstellen (vgl. Müller-Hergl, 2000, S.251).
Wie Norbert Elias in seiner berühmten Studie über den Prozess der Zivilisation beschrieben hat, ist es ein langwieriger und mühsamer Prozess gewesen, dieses Konstrukt herzustellen und zu konsolidieren (vgl. Elias, 1981). Wir erfahren dort, wie sich die Regeln des zivilisierten Miteinanders in der höfischen Gesellschaft des Mittelalters allmählich herausgebildet haben. Im Verlaufe dieses Prozesses werden unter anderem die Kontrolle über die Körperfunktionen im öffentlichen Raum sowie die unmittelbaren Äußerungen von Impulsen und Affekten mit Verboten belegt. Die Beherrschung des Zivilisationscodes, zu dessen wichtigsten Elementen die Fähigkeiten zur Impulskontrolle und zur Affektregulierung gehören, wird zur Voraussetzung für die Teilhabe am öffentlichen Leben der sich herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft und ist entscheidend dafür, ob es gelingt, in dieser Gesellschaft einen Platz einzunehmen. Wer an dieser Kultur teilhaben will, ist dazu gezwungen, deren zivilisatorische Regeln in einem individuellen Bildungsprogramm zu erwerben und eine Ichstruktur in sich zu errichten, die für die Einhaltung dieser Regeln sorgt. Sowohl der Erwerb des Zivilisationscodes als auch der Erhalt der ihn tragenden Ichstruktur sind, wie unter anderem die Psychoanalyse uns lehrt, äußerst mühsam und stets vom Scheitern bedroht.
Der Demenzkranke vergegenwärtigt aufs Schmerzlichste die Möglichkeit des Verlusts der Strukturen des Selbst. Er ist nicht mehr dazu in der Lage, die kognitiven Leistungen zu erbringen, die erforderlich sind, um Situationen auf die Zivilisationscodeanforderungen hin einschätzen zu können. Desgleichen hat er die Kulturtechniken der Impulskontrolle und der Affektregulierung verloren und damit die Möglichkeiten, Rollenerwartungen zu erfüllen, die mit dem Auftritt im öffentlichen Raum verbunden sind. Ihm ist die Fähigkeit der Selbststeuerung abhanden gekommen, d.h. es ist ihm nicht mehr möglich, planvoll zu handeln und eigene Vorstellungen mit einem rationalen Vorgehen umzusetzen. Kurz, er ist das Gegenbild zu allen Vorstellungen von einem guten Leben, die sich an der Möglichkeit von dessen autonomer Gestaltung orientieren. Und er ist das Gegenbild zu einer Identitätskonzeption, die über die Bezugnahme auf normative Erwartungen Teilhabe an der Gemeinschaft herstellt.
Als derjenige, der die Möglichkeit eines menschlichen Lebens vergegenwärtigt, in dem die genannten Vermögen in Vergessenheit geraten sind, ist der Demenzkranke indessen zugleich derjenige, der uns an etwas erinnert. Er ruft uns in Erinnerung, dass die Autonomie und die die Autonomie ermöglichenden Fähigkeiten zur Selbstregulierung nicht das Ganze unserer Existenz ausmachen. Wir sind zu Beginn des Lebens abhängige Wesen und müssen damit rechnen, am Ende des Lebens erneut in eine Situation der Abhängigkeit zu geraten.1
Die darin enthaltenen Erfahrungsmöglichkeiten sind nur unzureichend erfasst, wenn sie, wie der medizinische Blick das will, ausschließlich als negativ oder defizitär betrachtet werden. Diese Wertung erfolgt auf der Grundlage einer Verabsolutierung von Autonomie und Rationalität, die das Andere ihrer selbst, das zugleich die Bedingung ihrer Möglichkeit ist, vergessen hat.
Bei aller Tragik, die mit der demenziellen Krankheit verbunden ist, dürfen wir nicht übersehen, dass der Demenzkranke uns nicht nur Defizite vergegenwärtigt. Der Fortfall der kognitiv strukturierenden Schemata gibt anderen, weniger distanzierten Formen der Bezugnahme auf die Welt und auf die anderen die Chance zur Artikulation (vgl. Lauter, a.a.O., S.11). Für diejenigen, die dazu bereit sind, sich auf eine Begegnung und auf eine Beziehung mit ihm einzulassen, läßt der Demenzkranke Aspekte des Menschseins in Erscheinung treten, die uns gleichermaßen positiv bestimmen, auch wenn sie im Lebensvollzug des autonomen Erwachsenenlebens in den Hintergrund treten. Das betrifft vor allem die Sphäre der Emotionalität.
In Emotionen beziehen wir uns direkt und unmittelbar auf die Welt und auf die Anderen. In Emotionen kommt das nicht dem eigenen Willen unterworfene Gebundensein an Anderes und an Andere zum Ausdruck, also eine Seinssphäre, die dem Bestreben, über das eigene Leben Kontrolle auszuüben, eine Grenze aufzeigt. Demenzkranke sind in hohem Maße dazu fähig, auf der emotionalen Ebene zu kommunizieren. Wenn man sich empathisch auf ihre Welt einstellt, verfügen sie über zahlreiche Möglichkeiten, ihre Verbundenheit mit dem Anderen zum Ausdruck zu bringen. Dabei sind sie in ihren Emotionen unmittelbar und authentisch, d.h. wenn sie ein Gefühl äußern, so haben sie dieses Gefühl wirklich. In dieser Hinsicht können Demenzkranke ihren Mitmenschen, die zuweilen vor lauter Rücksichtnahme auf den Zivilisationscode mit seinen Konventionserfordernissen selber nicht mehr genau wissen, welche der von ihnen dargestellten Gefühle und Gedanken wirklich ihre eigenen sind, etwas beibringen. Sie sind, weil sie gar nicht anders können, authentisch.
Der Beitrag der Pflegewissenschaft
Erfreulicherweise bezeugt eine Reihe von pflegewissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Diskussionsbeiträgen der letzten beiden Dekaden einen Wandel im Verständnis der Demenz. Bei aller Verschiedenheit im Detail ist allen diesen Forschungen gemeinsam, dass sie sich von den einseitig auf die Defizite fixierten medizinischen Konzepten, die von den kulturellen Wertvorstellungen unserer Gesellschaft gestützt werden, abkehren. Es ist sicherlich kein Zufall, dass viele dieser Beiträge im Kontext der Pflegewissenschaft entstanden sind. Denn die pflegerische Tätigkeit zeichnet sich durch eine besondere Nähe zum Patienten aus. Die Pflege und somit die Pflegewissenschaft als deren wissenschaftliches Fundament haben mit der Erfahrung des Krankseins und daher stets mit der Person des kranken Menschen zu tun. So verwundert es nicht, dass hier das Erleben der Betroffenen in seinen positiven und negativen Aspekten in den Blick kommt.
Das Erleben von Demenzkranken wurde in einer Reihe von pflegewissenschaftlichen Studien eingehend untersucht. Als erstes seien exemplarisch einige phänomenologische Beschreibungen der Lebenswelten von Menschen mit Demenz angeführt, die die spezifischen Eigenheiten der dementen Konstitution der Wirklichkeit untersucht haben. Während unsere Bezugsgruppe noch bis in die neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts durch sogenannte Realitätsorientierungsprogramme in unsere Welt mit ihren normativen Vorstellungen zurückgeholt werden sollte, wird hier der Versuch unternommen, sich in ihre Welt zu begeben und das demente In-der-Welt-Sein aus seiner eigenen Logik heraus zu verstehen. So deutet etwa Ursula Koch-Straube den Rückzug vieler Demenzkranker in ihre inneren Welten als die berechtigte Weigerung, den Kränkungen der Gegenwart ins Auge zu sehen (vgl. Koch-Straube, 1997, S.110f. ). Auch die holländische Pflegewissenschaftlerin Cora van der Kooij geht bei ihrem Konzept der erlebnisorientierten Pflege (van der Kooij, 2000, S.65ff.) von der Notwendigkeit eines Verständnisses für die innere Wirklichkeit der Demenzkranken aus. Deren Erleben ist van der Kooij zufolge stark von der Erfahrung zunehmender Beeinträchtigung geprägt, was mit Gefühlen der Angst, der Verunsicherung und der Scham verbunden ist (vgl. a.a.O. S. 66). Die auf den ersten Blick unverständlichen dementen Verhaltensweisen erhalten ihrer Überzeugung nach einen Sinn, wenn sie als Versuche gedeutet werden, mit den durch die Krankheit bedingten Beeinträchtigungen fertig zu werden. Für van der Kooij sind diese Verhaltensweisen also nicht Symptome der Krankheit, sondern Copingstrategien, womit ihre Variante der Abkehr vom Defizitmodell bestimmt wäre.
Auch der Bradforder Sozialpsychologe Tom Kitwood versucht das innere Erleben des demenzkranken Menschen zu vergegenwärtigen. In diesem Zusammenhang macht er den Begriff des Personseins zum Ausgangspunkt seines wirkungsmächtigen Konzeptes für die Betreuung demenzkranker Menschen (vgl. Kitwood, 2000). Kitwoods Überzeugung nach versucht der von Demenz betroffene Mensch angesichts der ihn verlassenden Geisteskräfte verzweifelt nach Möglichkeiten, sich gleichwohl noch als Person zu erfahren. Sein Wohlbefinden oder sein Unbehagen hängen unmittelbar davon ab, ob dies gelingt.
Was heißt es nun, eine Person zu sein bzw. sich als Person zu erfahren? In bewußter Entgegensetzung zu dem in unserer Kultur verbreiteten Personenbegriff, der sich an den eben bereits angeführten Kriterien der Autonomie und der Rationalität orientiert, gründet Kitwood das Personsein in der Intersubjektivität bzw. der Interdependenz. In diesem Zusammenhang rekurriert er auf die Tradition des dialogischen Denkens, namentlich auf Martin Buber. Person zu sein, bedeutet in diesem Horizont, von einem Du angesprochen zu werden (vgl. Kitwood, a.a.O., S. 29f.) Die darin offenbar werdende Angewiesenheit auf den Anderen hält Buber und mit ihm Kitwood für viel grundlegender für unser Menschsein als die von unserer Kultur in den Vordergrund gestellte Autonomie.
Kitwood untermauert die dem Dialogdenken entnommenen Grundlagen seines Ansatzes mit den Befunden der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorien, die bekanntlich davon ausgehen, daß die Grundstrukturen unserer späteren Individualität durch Internalisierungsprozesse in der frühen Kindheit geprägt werden (vgl. Kitwood, a.a.O., S.103f.). Mit dem Konzept der Internalisierung ist gesagt, dass Funktionen, die ursprünglich im Intersubjektiven angesiedelt waren, allmählich in das Innere der Psyche verlagert werden. Laut Kitwood finden bei der Demenz Prozesse statt, die in die umgekehrte Richtung gehen. Die über lange Zeit hinweg internalisierten Funktionen werden wieder in den Bereich des Zwischenmenschlichen zurückgeschoben, aus dem sie einstmals hervorgegangen sind (vgl. ebd.). Mit anderen Worten ausgedrückt, die Grundstruktur des Angewiesenseins auf den Anderen, die während der Zeit des erwachsenen Lebens in den Hintergrund tritt, kommt bei Menschen mit Demenz wieder zum Vorschein. Auch hier wird die Demenz nicht als Defizitstruktur betrachtet, in der eine als normal bestimmte Daseinsform verschwunden wäre. Die hier erneut in den Vordergrund tretende Grundstruktur des Angewiesensseins wird vielmehr als eine Seinsform angesehen, die genauso zur Wesensbestimmung des Menschen gehört wie die Autonomie. Menschen mit Demenz sind in einem hohen Maß darauf angewiesen, von Anderen in ihrem Personsein gestützt zu werden.
Sowohl bei van der Kooij als auch bei Kitwood erhält die Qualität der zwischenmenschlichen Begegnung eine zentrale Bedeutung in der Betreuung der betroffenen Personen. Dabei geben beide der Kommunikation auf der emotionalen Ebene ein besonderes Gewicht.
Bei van der Cooij wird das Verständnis für die innere Realität der von Demenz betroffenen Menschen durch "Abstimmung auf der Ebene ihrer Erlebniswelt" (van der Kooij, a.a.O., S. 66) erzielt. Gelingt es den Pflegenden, sich auf die stark von Gefühlen beherrschte Welt der Demenzkranken "abzustimmen" (ebda.) und auf dieser Grundlage eine affektive Beziehung zu ihnen herzustellen, dann erreichen sie eine lebendige Kommunikation. Das Ziel der in diesem Zusammenhang erfolgenden Interventionen besteht nicht darin, Krankheitssymptome wegzuschaffen oder Selbständigkeit zu erhalten, sondern darin, den Betroffenen ein Gefühl der Geborgenheit und Wertschätzung zu vermitteln (vgl. a.a.O., S.67).2
Während van der Kooijs den intuitionistischen Fähigkeiten der Pflegenden vertraut, geht Kitwood indessen davon aus, daß in weiten Bereichen der Betreuung Demenzkranker die von ihm sogenannte maligne, bösartige Sozialpsychologie verbreitet ist. Damit bezeichnet er Formen der Interaktion, die entpersonalisierend wirken, ohne daß die Betreuenden bewußt üble Absichten verfolgen würden (vgl. Kitwood, a.a.O., S.75). Kitwood hat ein Verfahren entwickelt, das Dementia Care Mapping, mit dessen Hilfe professionelle Betreuer für problematische Verhaltensweisen sensibilisiert werden können. Den malignen Interaktionsformen stellt er Verhaltensmöglichkeiten gegenüber, mit denen auf die psychischen Grundbedürfnisse der Demenzkranken Bezug genommen wird.
Menschen mit Demenz benötigen, um sich als Personen erfahren zu können, laut Kitwood Trost, der sie die zahlreichen Verlusterfahrungen bezüglich anderer Menschen und der eigenen Fähigkeiten erträglich werden läßt (vgl. a.a.O., S.123). Desweiteren benötigen sie primäre Bindung, d.h. sie brauchen konstante Bezugspersonen, die dazu bereit sind, echte Beziehungen zu ihnen einzugehen (vgl. a.a.O., S.124). Sie benötigen Einbeziehung in soziale Kontexte (vgl. ebd.) und Beschäftigung (vgl. ebd.). Schließlich nennt Kitwood noch das Bedürfnis nach Identität (vgl. a.a.O., S.125). Die Stärkung des durch die Krankheit brüchig werdenden Identitätsgefühls der Betroffenen wird durch die unmittelbare Spiegelung in einer das Personsein stützenden Interaktion erreicht und durch Bezugnahme auf die Biographie.
Die allen angeführten psychischen Grundbedürfnissen übergeordnete Kategorie ist bei Kitwood die Liebe. An Demenz erkrankte Menschen brauchen, so sein Befund, in einem uneingeschränkten Sinne Liebe, die genannten Bedürfnisse sind Teilelemente dieses fundamentalen Verlangens, das in ihnen zum Ausdruck kommt.
Bei unserem Überblick über die pflege- und sozialwissenschaftlichen Bemühungen um einen Zugang zum subjektiven Erleben von Demenzkranken darf die Studie der holländischen Pflegewissenschaftlerin Corry Bosch zur Lebenswelt dementierender alter Menschen nicht fehlen (vgl. Bosch, 1998). Während Kitwood auf die psychischen Grundbedürfnisse und die Notwendigkeit, diesen durch eine stützende Form der Interaktion zu entsprechen, fokussiert, also auf eine dialogische Situation zwischen Personen, rückt Corry Bosch die Lebenswelt und damit den größeren Kontext in den Blick, in dem der an Demenz erkrankte Mensch sich bewegt. Genauso wie die eben erwähnte Cora van der Kooij orientiert sich Corry Bosch bei der Beobachtung der Äußerungen und Verhaltenweisen von Demenzkranken nicht an den kognitiven Defiziten bzw. Symptomen der Krankheit, sondern sie versucht, das in diesen Äußerungen und Verhaltensweisen zum Ausdruck kommende innere Erleben der Betroffenen zu verstehen. Zu diesem Zweck hat sie untersucht, in welchen verschiedenen Formen diese Menschen ihre Lebenssituation in einem Pflegeheim erleben. In ihrer Studie vergleicht sie Frauen und Männer, schließlich nimmt sie als dritte Vergleichsgruppe Ordensfrauen hinzu.
Bei den an Demenz erkrankten Frauen ist das Thema des Zuhauses allgegenwärtig - es handelt sich um eine Studie, die Ende der 90er Jahre verfaßt worden ist, die Frauen gehören also einer Generation an, die größtenteils ihr Leben als Hausfrauen verbracht haben. Die Frauen wollen immer nach Hause, weil dort wichtige Aufgaben zu erledigen sind, weil dort die Kinder oder die Männer auf sie warten. Sie definieren die Situation, in der sie sich aktuell befinden, im Ausgang von dem, was ihnen in ihrer Lebensgeschichte vertraut gewesen ist. Bei den in die Untersuchung einbezogenen Männern findet das Zuhause keine sonderliche Beachtung, hier stehen eher Themen rund um die Arbeit oder um Freizeitbeschäftigungen wie das Vereinsleben im Vordergrund. Auch die Männer beziehen sich also auf ihre Lebensgeschichte und suchen in der aktuellen Situation nach Möglichkeiten, sie mit dieser Geschichte zu verknüpfen.
Corry Bosch folgert aus ihren Untersuchungen, dass die Kategorie der Vertrautheit von zentraler Bedeutung für das demente Erleben ist. Mit Rekurs auf das phänomenologische Konzept der Lebenswelt begreift sie Vertrautheit als ein Weltverhältnis, das sich in einem interaktiven Prozess mit der Welt entwickelt (vgl. Bosch, a.a.O. S.113) . Im handelnden Umgang mit der Welt, den Dingen in der Welt und mit den anderen lernen wir, den Dingen Bedeutungen beizumessen, Situationen zu definieren und eine Vorstellung darüber zu entwickeln, wie wir uns in diesen Situationen verhalten sollten. Hierbei spielt unser Erinnerungsvermögen eine zentrale Rolle, denn es ermöglicht uns, Dinge wiederzuerkennen und Situationen entsprechend der dazugehörigen Definitionen einzuschätzen. Im Verlauf der Zeit bilden sich dazu Routinen und Gewohnheiten aus, über die man in der Regel nicht weiter nachdenken muß. Auf diese Weise entwickeln wir eine Vertrautheit mit unserer Alltagswelt, wir fühlen uns mit ihr verbunden und erhalten über diese Verbundenheit Orientierung und Sicherheit. Wenn das Erinnerungsvermögen beeinträchtigt ist, gehen dieses Vertrautheitsgefühl und die Fraglosigkeit der Welt verloren.
Corry Bosch findet bei allen untersuchten Personen Schmerz und Trauer über den durch die kognitiven Einbußen entstehenden Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit der Welt. Sie machen die schmerzhafte Erfahrung, dass die Kontinuität ihres Lebens von Gedächtnislücken durchbrochen wird, was einstmals im täglichen Leben vertraut und selbstverständlich gewesen ist, wird nun als Nicht-Vertrautes und manchmal sogar als Angsteinflößendes erlebt. (vgl. Bosch, a.a.O., S. 94). Viele Äußerungen der Betroffenen können laut Bosch verstanden werden, wenn man darin das Bemühen erkennt, die verlorengegangene Vertrautheit wieder zu finden bzw. wieder herzustellen. So erstaunt Corry Boschs Befund nicht, dass die untersuchte Gruppe von Ordensfrauen im Vergleich mit den weltlich lebenden Männern und Frauen weniger Schwierigkeiten hatte, sich in der Lebenswelt des Pflegeheims zurechtzufinden. Denn der Lebensrhythmus, die Gewohnheiten und die Art der Umgebung und der vorhandenen Beziehungen weisen starke Ähnlichkeiten mit dem Klosterleben auf, das einen wichtigen Teil ihres Lebens geprägt hat. (ebda.)
Biographiearbeit in der Betreuung Demenzkranker
Arbeiten wie die genannten haben viel dazu beigetragen, die Erfahrungsstruktur des dementen Erlebens besser zu verstehen und so Grundlagen für eine Umorientierung in der Versorgung der Betroffenen geschaffen. In diesem Zusammenhang wurde das Konzept der Biographiearbeit, das zunächst für andere Kontexte entwickelt worden ist, für den Bereich der Betreuung Demenzkranker fruchtbar gemacht.
Die biographische Methode wurde in der Medizin bekanntlich als Gegenorientierung zu einem ausschließlich die Objektivität der Krankheit betrachtenden Ansatz eingeführt. Viktor von Weizsäcker hat immer wieder auf die Notwendigkeit hingewiesen, den Zusammenhang zwischen der Krankheit und der Subjektivität des Kranken auszuleuchten. Die Auseinandersetzung mit der Biographie des Kranken dient hier dem medizinischen Bemühen um Heilung. Indem man den Kranken dabei unterstützt, zu begreifen, welche existenzielle Bedeutung die Krankheit für ihn hat, erhält er die Möglichkeit, über sein Leben nachzudenken und ihm vielleicht eine andere Richtung zu geben, die weniger pathogene Wirkungen entfaltet.
Das relativ junge Konzept der Biographiearbeit hat eine andere Ausrichtung. Es ist als Form der Unterstützung für Mitglieder vulnerabler Gruppen entstanden, die Schwierigkeiten haben, angesichts der komplexen Anforderungen der Postmoderne bzw. der globalisierten Welt eine ausreichend stabile Identität auszubilden.
Unter den Bedingungen der Moderne konnten Individuen ihr Leben bezogen auf einen relativ überschaubaren Horizont von normativen Erwartungen führen. In der postmodernen Kultur der globalisierten Welt hingegen sind viele Menschen dazu gezwungen, sich immer wieder auf neue Lebenssituationen, neue Lebensbedingungen und damit auch auf neue normative Erwartungen einzustellen. Postmoderne Lebensläufe sind durch Brüche und Diskontinuitäten gekennzeichnet. Wie Richard Sennett in seiner Studie Der flexible Mensch eindrücklich beschrieben hat, hat der damit einhergehende Zwang zur ständigen Neuorientierung tiefe Auswirkungen auf das Selbstverständnis und die Identitätskonzepte der Individuen (vgl. Sennett, 1998). Unter den alten Bedingungen - einer im Großen und Ganzen durch Kontinuität bestimmten Erfahrung - konnten sie ihre Identität an relativ beständigen normativen Erwartungen ausrichten. Unter den neuen Bedingungen sind die Individuen dazu aufgefordert, selbst den roten Faden zu spinnen, der ihrem von Brüchen und Diskontinuitäten geprägten Leben Kohärenz verleiht.
Biographiearbeit ist in diesem Kontext die Bezeichnung für eine Form der psychosozialen Betreuung, die vulnerable Gruppen dabei unterstützt, die beschriebenen Brüche, Diskontinuitäten und Widerfahrnisse so zu verarbeiten, dass sie diese in ihr Leben integrieren können. Wir finden diese Ansätze zum Beispiel im Kontext der sozialpädagogischen Arbeit mit gefährdeten Jugendlichen oder in der Arbeit mit Migranten. Es geht hier stets darum, trotz aller Brüche und schwierigen Erfahrungen eine Möglichkeit zu schaffen, das Leben als das eigene und sich selber als jemanden wahrzunehmen, der dieses Leben gestaltet und führt. Es geht also um die Unterstützung der Entwicklung von Autonomie.
Die Biographiearbeit in der Betreuung Demenzkranker hat insofern einen anderen Fokus, als die Erfahrung der Diskontinuität nicht durch den äußeren Kontext, sondern durch das Brüchigwerden des Inneren bedingt ist. Diejenigen kognitiven Strukturen, auf die Biographiearbeit in den anderen angeführten Zusammenhängen rekurriert, um ein Kohärenzgefühl entwickeln zu helfen, sind gerade diejenigen, die von der Krankheit angegriffen werden. Bei der Biographiearbeit mit Demenzkranken geht es nicht darum, die Erfahrungen von äußerer Diskontinuität durch die nachträgliche Konstruktion eines Sinnzusammenhangs in eine kohärente innere Lebensgeschichte zu integrieren, sondern darum, die Erfahrungen von innerer Diskontinuität durch die Herstellung von äußerer Kontinuität zu mildern.
So hat die Einsicht in die große Bedeutung von Vertrautheit und Sicherheit für das Wohlbefinden und das Lebensgefühl von an Demenz ¬erkrankten Menschen in den letzten Jahren zur Entwicklung von Betreuungskonzepten geführt, die sich um die Ermöglichung von Kontinuitätserfahrungen in dem beschriebenen Sinne bemühen.
Das Ziel dieser Konzepte ist es, für die Betroffenen im institutionellen Arrangement eine vertraute Lebenswelt zu schaffen, die sie zumindest partiell als die ihre wahrnehmen können. In diesem Zusammenhang sind neue Settings entstanden, die sich von den funktionsorientierten Routinen der großen Institutionen wegbewegen und stattdessen versuchen, in kleinen überschaubaren Einheiten eine familienähnliche Umgebung zu schaffen. Man versucht, in dieser Umgebung den früheren Lebensalltag der Betroffenen nachzubilden und so zu gestalten, dass die alten Menschen dadurch Erinnerungsanreize erhalten. So wird etwa das Mobiliar nach den Geschmacksvorstellungen der betroffenen Generation ausgesucht, bei Speisen wird nicht die moderne Küche angeboten, sondern es werden altbekannte Gerichte von früher serviert. Die Bewohner werden bei praktischen Tätigkeiten, soweit diese noch beherrscht werden, einbezogen. Die Frauen können Kartoffeln schälen oder Gemüse putzen, für Männer hat eine Einrichtung mit großem Erfolg eine Werkstatt eingerichtet, in der sie etwa Fahrräder reparieren können. Durch die Vergegenwärtigung von Bruchstücken des vergangenen Lebens, sei es in der Form der Ausübung vertrauter Tätigkeiten oder in der Form der Ausstattung von Räumen, werden Erinnerungen angeregt, um damit das Identitätsgefühl der alten Menschen zu stützen.
Biographiearbeit und die Probleme der institutionellen Settings
Durch die Umsetzung dieser Konzepte in der Gestaltung des institutionellen Alltags der Versorgung von Demenzkranken wird ohne Zweifel ein wichtiger Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität der Betroffenen geleistet. Gleichwohl ist es wichtig, auch die Grenzen zu vergegenwärtigen, die unsere derzeit bestehenden Versorgungsstrukturen setzen.
Da wäre zunächst auf die Schwierigkeiten hinzuweisen, die sich aus dem Unterschied zwischen der persönlichen und der sozialen Identität der Betroffenen ergeben. Institutionelle Settings sind Lebenswelten, die in aller Regel von sozialen Konstruktionen und allgemeinen Bedeutungen ausgehen. Dabei bleibt unberücksichtigt, welche persönlichen Bedeutungen die Individuen mit den angebotenen Konstruktionen verbinden. Eine Biographie ist ja stets eine Konstruktion, die den Erfahrungen, seien es kollektive oder individuelle, je eigene Bedeutungen zuweist. Von außen angebotene Erinnerungsanreize können in diesem Sinne durchaus verschiedene Wirkungen zeitigen. Sie können zum einen eine beruhigende und Sicherheit vermittelnde Wirkung haben, sie können jedoch genausogut Angst auslösen, etwa, wenn sie traumatische Erfahrungen wachrufen. Wie wir wissen, haben viele der gegenwärtig in der institutionellen Versorgung zu findenden Demenzkranken die Nazidiktatur und den Zweiten Weltkrieg erlebt. Nicht wenige haben in dieser Zeit traumatische Erfahrungen gemacht, über die sie unter Umständen ihr ganzes Leben lang nicht gesprochen haben. In der Demenz können die alten Ängste, die während der Erwachsenenzeit verdrängt worden sind, erneut zum Vorschein kommen.
Dieses Beispiel soll deutlich machen, dass es nicht ausreicht, die institutionelle Lebenswelt mit Elementen auszustatten, von denen man vermutet, dass sie einen Wiedererkennungswert besitzen. Denn dabei bleibt unberücksichtigt, welche persönlichen Erfahrungen die Betroffenen damit verbinden.
Für die Herstellung von Vertrautheit in einem emphatischen Sinne ist über die Anknüpfung an die mit den kollektiven Erfahrungen verbundene soziale Identität hinaus auch eine genaue Kenntnis der persönlichen Lebensgeschichte erforderlich. Diese darf sich nicht, wie das in der institutionellen Praxis verbreitet ist, auf die Orienterung an äußeren Daten beschränken, sondern muss sich mit den dazu gehörigen Bedeutungszuweisungen der betroffenen Person auseinandersetzen. Eine derartige Form der Betreuung erfordert die Bereitschaft, mit der Person des Demenzkranken in Beziehung zu treten. Für den Zugang zu seinen Bedeutungszuweisungen und Situationsdefinitionen bedarf es ohne Zweifel des biografischen Wissens über Lebensdaten, dieses bleibt jedoch unwirksam, wenn es nicht mit einer Kommunikation auf der Ebene der Emotionen verbunden wird. Wie wir alle wissen, machen die gegenwärtigen Rahmenbedingungen der mit der Versorgung der Betroffenen betrauten Institutionen es denkbar schwierig, eine solche Betreuung zu gewährleisten.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf Tom Kitwoods Ansatz zurückkommen. Wie weiter oben erwähnt, faßt Kitwood die Bedürfnisse des an Demenz erkrankten Menschen unter dem fundamentalen Grundbedürfnis nach Liebe zusammen. Der an Demenz erkrankte Mensch braucht in einem umfassenden Sinne die Liebe der anderen, um seine tragische Situation aushalten zu können. Damit formuliert Kitwood eine Aufforderung, die für unsere institutionellen Betreuungssettings nicht weniger bedeutet als dass sie ihre innere Logik umkehren müssten.
Liebe hat ihren genuinen Ort in der Sphäre des Privaten, in der Sphäre der Institutionen dagegen stellen Emotionen in der Regel Hindernisse dar, denn Institutionen sind ihrer ganzen Logik nach darauf ausgerichtet, Funktionalität zu gewährleisten. Emotionen bergen immer die Gefahr in sich, den reibungslosen Ablauf der Prozesse, in denen Institutionen Gestalt gewinnen, zu stören. In der Logik der Institutionen ist daher für die Liebe kein Platz vorgesehen bzw. aus der Perspektive der Institution ist sie immer nur ein Störfaktor. Die in den letzten Jahren vorangetriebene Ökonomisierung hat die institutionelle Logik der Funktionalität noch einmal ungemein forciert. Hinzu kommt, dass sich gleichzeitig bei den versorgenden Berufsgruppen der Dienstleistungsgedanke als professionelle Orientierung durchgesetzt hat. Damit hat ein eher profanes Berufsverständnis die vormals verbreitete caritative Grundhaltung verdrängt. Von einem Dienstleister erwartet man neben der Professionalität auf der Ebene der Fachexpertise Freundlichkeit und ein zugewandtes Verhalten. Dabei orientiert der Gedanke sich an den Verpflichtungen der Rolle gegenüber, die innere Haltung, die für die Caritas charakteristisch gewesen ist, hat bei der eine Dienstleistung erbringenden Person keine sonderliche Bedeutung.
Die Entwicklung der Institutionen geht damit in eine Richtung, die in einem diametralen Gegensatz zu den Anforderungen einer an den Grundbedürfnissen der Demenzkranken ausgerichteten Betreuung steht. Ungeachtet dessen wird die Betreuung in Zukunft in einem immer stärkeren Ausmass institutionell organisiert werden müssen, da die informellen Netzwerke brüchig werden. Für dieses Problem zeichnen sich derzeit keine Lösungen ab.
Um den Erfordernissen einer an den Bedürfnissen der Demenzkranken orientierten Betreuung gerecht werden zu können, werden wir jedoch gänzlich neue Institutionen erfinden müssen. Eine Voraussetzung dafür, dass diese Institutionen möglich werden, wäre, dass unsere Kultur es schafft, sich von der einseitigen Ausrichtung auf einen auf individuelle Autarkie verkürzten Begriff von Autonomie zu verabschieden und dem dabei in den Hintergrund geratenen Wert der Solidarität wieder mehr Gewicht zu verleihen.
Zu Beginn meiner Ausführungen habe ich im Anschluss an Foucault die These in den Raum gestellt, dass der Demenzkranke in unserer Kultur eine Grenzerfahrung vergegenwärtigt, er verkörpert für uns das Andere der Autonomie.
Mit dem Stichwort der Solidarität soll angedeutet werden, dass dieses Andere der Autonomie nicht zwangsläufigerweise negativ bestimmt werden muss. So enthält die Entwicklung einer massiven Präsenz von Demenzkranken in unserer Gesellschaft bei aller damit verbundenen Tragik vielleicht auch einen positiven Aspekt. Sie ermöglicht uns deutlicher als alle anderen Erfahrungen, die Grenzen unserer Autonomie zu vergegenwärtigen und gibt uns damit die Chance zu sehen, dass auch jenseits der Autonomie Aspekte des Menschseins zum Ausdruck kommen, die Teil unseres Lebens sind.
Ich möchte meine Ausführungen mit einem Zitat von Richard Sennett beschließen, das an einen uralten Zugang zu diesem Bereich unseres Menschseins erinnert.
Überall in den gesellschaftlichen Problemen einer ... Stadt verbirgt sich die moralische Schwierigkeit, Sympathie für die zu wecken, die die Anderen sind. Diese Sympathie kann nur entstehen, .... wenn wir begreifen, warum der ... Schmerz einen Ort braucht, an dem er anerkannt wird und an dem seine transzentenden Ursprünge sichtbar werden. Solcher Schmerz hat eine bestimmte Bahn in der menschlichen Erfahrung. Er desorientiert und macht das Ich unvollständig, besiegt den Wunsch nach Kohärenz; der den Schmerz anerkennende Körper ist bereit, ein gesellschaftlicher Körper zu werden, empfindlich für den Schmerz einer anderen Person, für Schmerzen, die auf der Straße präsent sind. Sie werden ihm schließlich erträglich - obwohl in dieser Welt der Vielfalt keine Person der anderen erklären kann, was sie fühlt, was sie ist. Doch der Körper kann dieser gesellschaftlichen Bahn nur dann folgen, wenn er anerkennt, daß es in den Verheißungen der Gesellschaft kein Heilmittel für seine Leiden gibt, daß sein Unglück von anderswoher gekommen ist, daß sein Schmerz sich von Gottes Gebot an die Menschen ableitet, als Verbannte zusammenzuleben. (R. Sennett, 1995, S. 464).
Danksagung
Ich danke dem Erstgutachter für die persönliche Mitteilung von Inge Jens sowie für die Weiterleitung der Information, diese Mitteilung verwenden zu dürfen.
Endnoten
1 Wenn wir den Fall von schwerer Krankheit nehmen, ist diese Möglichkeit im Übrigen stets gegeben.
2 Laut einer persönlichen Mitteilung seiner Ehefrau Inge Jens lebt der eingangs angeführte Walter Jens derzeit als Demenzkranker mit hoher Lebensqualität relativ heiter weiter (vgl. Inge Jens, persönliche Mitteilung, 2011). Dies ist ein ermutigendes Zeichen dafür, dass es tatsächlich möglich ist, durch eine gute Form der Betreuung die Lebenssituation von Demenzkranken so einzurichten, dass sie sich wohl fühlen können.
Literatur
Bosch, C. (1998). Vertrautheit. Studie zur Lebenswelt dementierender alter Menschen. Wiesbaden: Ullstein Medical.
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Dr. Angelika Pillen
Institut für Fort- und Weiterbildung der Alexianer
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Philosophin, Leiterin Institut für Fort- und Weiterbildung der Alexianer. Tätigkeitsschwerpunkte: Personalentwicklung in der Psychiatrie, Klinische Ethik.