Markus Pawelzik
[Journal für Philosophie & Psychiatrie, März 2018, Original paper]
Dieser Beitrag wurde mit dem DGPPN-Preis für Philosophie und Ethik in Psychiatrie und Psychotherapie 2017 ausgezeichnet.
Zusammenfassung
Die psychiatrische Nosologie befindet sich in einer paradoxen Situation. Die selbstverständliche Annahme, dass den verschiedenen Typen psychischer Störung diskrete biologische Pathologien zugrunde liegen, ließ sich bis heute nicht bestätigen. Trotz eines immensen Aufwands bei dem Versuch, die biologische Signatur von Störungen wie Schizophrenie oder Depression zu erhellen, ist nicht ein einziger biologischer Marker bekannt, der mit einem der einschlägigen klinischen Syndrome zuverlässig kovariiert. Warum ist dies so? Die Standardantwort, der zufolge das betroffene Organ, das Gehirn, weitaus komplexer und dynamischer operiere als andere Organe und dass es deshalb noch nicht gelungen sei, besagte Signaturen einzugrenzen, deutet bereits an, dass das zugrunde gelegte Modell – das medizinische Modell von Krankheit – womöglich nicht zur Klassifikation von Geist-Gehirn-Verhaltensauffälligkeiten passt. Genau dies ist die These, die ich in dem vorliegenden Essay entwickeln werde: Es gibt keine psychischen Störungstypen im Sinne des Common Cause-Modells. Die Gründe für diese Einschätzung sind sowohl systemimmanenter als auch systemkonfrontativer Art: Aus systemimmanenter, der etablierten Forschungslogik folgender Perspektive lassen sich starke empirische Gründe nennen, die sowohl die Validität der etablierten Syndromdefinitionen (= systemimmanentes Explanandumproblem) als auch die Angemessenheit der bemühten Erklärungsansätze (= systemimmanentes Explanansproblem) in Zweifel ziehen. Aus systemkonfrontativer Sicht wird die sträfliche Vernachlässigung der konstitutiven Rolle der Kultur für ein angemessenes Verständnis des Psychischen angemahnt: Das Gehirn ist über weite Strecken kein autochthon operierendes Organ, dass das Verhalten einer Drüse gleich „sezerniert“. Das Gehirn arbeitet vielmehr „enaktiv“ als verkörpertes und vielfach eingebettetes Vehikel kultureller Praxis. Unsere „Seelenbegabtheit“ verdankt sich in erheblichem Maße der Assimilation normativ definierter Muster, ohne deren Kenntnis weder der alltägliche interpersonelle Umgang noch unsere Praxis psychopathologischer Urteile intelligibel wäre. Auch aus meta-psychologischer Perspektive ist folglich nicht zu erwarten, dass die etablierten alltagspsychopathologischen Störungsdefinitionen (= systemkonfrontatives Explanandumproblem) und unsere narrativ-erklärenden klinischen Bemühungen alltagspsychologischer Art (= systemkonfrontatives Explanansproblem) mit den mutmaßlichen neuro-mechanistischen bzw. neuro-kognitiven Bedingungen eines intrinsischen Speziesdesigns übereinstimmen.
Schlüsselwörter: psychiatrische Nosologie, medizinisches Modell, Syndromreifikation, Degeneriertheit, Enaktivismus
Abstract
The idea that brain-based pathological types of mental disorders exist, undergirds Psychiatry’s practice: We investigate, diagnose, treat, collect and report cases of mental illness as if they were exemplars of discrete pathological types. Paradoxically, decades of intensive research were unable to demonstrate that this is the case. We do not know a single biological marker that reliably covariates with operationally defined clinical syndromes in order to be added to a valid, brain-based definition of mental disorders (cf. DSM-5). How to explain this frustrating fact? The standard explanation of this paradox points to the little understood, self-organized and context sensitive dynamics of brain function. If it were the case that the brain-dysfunctions involved do not correspond to the “pathognomonic” outcomes of “modular breakdowns”, i.e. sufficiently tight couplings between brain-structures and functions (respectively malfunctions), then we need to look for non-linear “computational” definitions of mental disorders (Thagard, 2008). I will argue that even weakened versions of the medical model of mental disorders will not succeed – simply because there are no such brain-based types of disorders. My deliberations will follow two perspectives: From a system-immanent perspective, there are good empirical reasons to dispute the validity of the established taxa and to challenge the “linear” and “localizationist” assumptions of orthodox research. The mind-brain-behavior-conundrum simply does not work the way, the medical model presupposes. From a more system-confronting perspective, the established model of a detached loner’s mind-brain-behavior-system seems increasingly dubitable. The brain, obviously, does not work like a gland that “secretes” behavior like a hormone. The brain rather operates as an individually embodied, multiply embedded and affordance-dependent enacting vehicle of cultural practice. Following this “culturalist” line of thought it seems unlikely that implementations of mentally ill states prove to be congruent with intrinsic brain conditions.
Key words: psychiatric nosology, medical model of mental disorders, reification of invalid definitions, degeneracy of biological processes, “4e” cognitive science
Einleitung: Das Dilemma der psychiatrischen Nosologie
Natürlich gibt es Menschen, die an Störungen ihrer psychischen Funktionen leiden – also Fälle von Depression, unverhältnismäßiger Angst oder offensichtlichen kognitiven Störungen. Doch gibt es auch Typen psychischer Störungen, etwa die Depression, die das Wesen bzw. die konstitutionellen Gemeinsamkeiten aller Exemplare des Typs Depression kennzeichnet? Die Annahme, dass psychische Störungen diskrete Entitäten sind, ist grundlegend für die Psychiatrie. Schließlich definieren diese Typenunterscheidungen, was Psychiater tun: Sie diagnostizieren, therapieren, erforschen, begutachten und erheben epidemiologische Daten etc. unter der Vorstellung, Fälle als „Exemplare natürlicher psychopathologischer Arten“ zu identifizieren. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Tatsache, dass der empirische Beleg für diese grundlegende Annahme denkbar schwach ist, wie das folgende praktische Dilemma verdeutlichen soll:
Die Grundannahme: Auf der einen Seite gehen wir alle wie selbstverständlich davon aus, dass es psychische Störungen im Sinne ätiologisch bzw. pathogenetisch unterschiedener nosologischer Entitäten gibt. Schließlich leiden unsere Patienten an unterschiedlichen Formen psychischer Krankheit, erkennbar an den unterschiedlichen Erscheinungs- und Verlaufsweisen der Störungsbilder und an deren differentieller therapeutischer Beeinflussbarkeit. Wir führen die regelhafte Kovariation von Symptomen, anhand derer wir Typen von Syndromen identifizieren, sowie die störungsspezifische Wirksamkeit bestimmter therapeutischer Interventionen auf die Existenz einheitlicher pathologischer Bedingungen zurück. Damit sind die unterschiedlichsten möglichen Varianten einer gemeinsamen, den Störungstyp charakterisierenden Ursache gemeint. Diese Annahme entspricht dem so genannten medizinischen Modell psychischer Störungen (McHugh & Slavney, 1998; 4. Kapitel). Sie ist im psychiatrischen Denken derart verankert, dass man von einer „regulativen Idee“ sprechen kann.
Die Datenlage. Auf der anderen Seite ist es bislang nicht gelungen, die biologische Signatur auch nur einer der klassischen psychischen Störungen zu erhellen. Die, ihrem eigenen Selbstverständnis zufolge „beste mögliche Beschreibung“ psychischer Störungen, die DSM-5 (APA, 2013), führt nicht einen einzigen biologischen Marker in ihren Störungsdefinitionen auf.[i] Alle bisher diskutierten Kandidaten eines solchen Markers – und derer gab es viele - haben sich als entweder nicht replizierbar oder als nicht spezifisch für den infrage stehenden Störungstyp erwiesen. Angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der wir von der Richtigkeit der o.g. Grundannahme ausgehen, ist dieser Befund bemerkenswert: Die „deskriptive Angemessenheit“ (van Fraassen, 1980), das Angemessenheitskriterium wissenschaftlicher Theorien schlechthin, des medizinischen Modells psychischer Störungen ist demnach bescheiden.
Die Reaktionen der Fachkollegen auf das beschriebene Dilemma sind unterschiedlich. Die Vertreter des psychiatrischen Mainstreams verweisen auf besondere Herausforderungen: Das Gehirn, dessen verschiedene Funktionsstörungen für Typen psychischer Störungen verantwortlich sind, ist weitaus komplexer und operiert dynamischer als alle anderen Organe, deren erfolgreiche pathophysiologische Erforschung den Anspruch des medizinischen Modells von Krankheit begründet. Die bisherigen Schwierigkeiten, den „biologischen Pathotyp“ der psychopathologisch definierten Phänotypen zu elaborieren, ist auf eben diese besonderen Organbedingungen zurück zu führen. Gleichwohl wird es mit Hilfe sensiblerer Detektionsmethoden und anspruchsvollerer Modellierungsmöglichkeiten eines Tages gelingen, die spezifische „gemeinsame Ursache“ der verschiedenen, (in ihrer konstitutiven Heterogenität womöglich unterschätzten) psychischen Störungen zu bestimmen (Andreasen, 2001; Murphy, 2006; Thagard, 2008).
Diese Sicht der Dinge verliert zunehmend an Unterstützern. Einige systematische Überlegungen sprechen dafür, dass die fortgesetzte Reifikation tradierter Störungsdefinitionen bzw. dass naive Annahmen über die infrage stehenden neuro-psycho-pathogenetischen Zusammenhänge den Fortschritt behindern (Hyman, 2007; 2010; Cuthbert & Insel, 2013). Insofern die Erfolgsaussichten medizinischer Therapien von der Präzision der zugrundeliegenden Diagnosen abhängen, sei deshalb eine konsequente, an den neuronalen Gegebenheiten ausgerichtete Neuorientierung der Forschung geboten (Cuthbert & Insel, 2013). Ich möchte im Folgenden über diese berechtigten Einwände gegen die etablierte Forschungspraxis hinausgehen und eine radikalere These vertreten und begründen: Es gibt die psychischen Störungen, die wir gemäß dem medizinischen Modell unterstellen, einfach nicht. Es gibt sie nicht, weil das tatsächliche pathogenetische Geschehen nicht dem entspricht, was die einschlägigen Studiendesigns im Geiste des medizinischen Modells unterstellen. Folglich verwundert es nicht, dass diese Studien ohne replizierbare, die Grundannahme bestätigende Ergebnisse bleiben.[ii]
Die Gründe, die mich zu dieser Sicht der Dinge veranlassen, kann man in zwei Gruppen zusammenfassen: Die erste Gruppe ist systemimmanenter, von der etablierten Forschungslogik ausgehenden Art. Sie rekurriert auf empirische Gründe, die das bisherige Scheitern der psychiatrischen Nosologieforschung erklären könnten. So etwa sind die verwendeten Störungsdefinitionen erkennbar invalide. Dies verhindert, dass pathologisch homogene Gruppen von Exemplaren selektiert werden können, was eine Voraussetzung für erfolgsversprechende Gruppenvergleiche ist. Weiterhin gibt es empirische Gründe, die gegen die Annahme hinreichend determinierter Struktur-Funktions-Beziehungen im Gehirn sprechen. Wenn dieselben Strukturen zur Realisierung verschiedener Funktionen beitragen, und wenn dies zudem auf variable, ständig wechselnde Weise geschieht, dann ist es nicht verwunderlich, dass sich keine Pathomechanismen identifizieren lassen – Pathomechanismen, die hinreichend definite Typen von Strukturstörungs-Funktionsstörungs-Beziehungen beschreiben. Kurz: die Suche nach den pathogenetisch zusammenpassenden Phäno- und Pathotypen könnte schlicht daran scheitern, dass die zu klassifizierenden Fälle psychischer Gestörtheit vielgestaltiger – und damit weniger typisch - sind, als es das medizinische Modell erwarten lässt.
Die zweite Gruppe von Gründen ist philosophischer bzw. systemkonfrontativer Art: Sie sprechen dafür, dass der theoretische Ansatz, den die Verhaltenswissenschaften z. Z. verfolgen, womöglich nicht der Realität entspricht. Die auf das Gehirn eines „geschichts-, beziehungs- und kontextlosen Einzelgängers“ konzentrierte experimentelle Forschung unterstellt, dass dieses Organ den Geist einer Drüse gleich sezerniert – was einfach falsch ist, weil die Funktionsweisen des Gehirns in weiten Bereichen weniger durch dessen Physiologie, als vielmehr durch soziale Entwicklungsbedingungen und Anforderungen bestimmt werden. In den zeitgenössischen Kognitionswissenschaften reifen dem entsprechend zunehmend Überlegungen, die dem Gehirn eine ganz andere Rolle zuweisen: Das Gehirn, so diese Überlegungen, ist ein hochgradig kontextsensibel operierendes, nicht nur mit anderen Organsystemen, sondern - über die Körpergrenzen hinausgehend – mit sozialen Beziehungen und Praktiken verschränkt operierendes „Steuerungssystem“. Darüber hinaus wird die Arbeitsweise weniger durch eine autochthone „kognitive Architektur“, sondern durch fortgesetzte, sensomotorische Auseinandersetzungen mit der Umwelt bestimmt – eine „enaktiv“ genannte Arbeitsweise, die sich erfahrungsabhängig ständig verändert. Sollten sich diese, den Annahmen des medizinischen Modells von Krankheit widersprechenden Vorstellungen bewahrheiten, so verwundert es nicht, dass das Projekt einer wissenschaftlich begründeten psychiatrischen Nosologie auf der Stelle tritt.
I. Systemimmanente Probleme des medizinischen Modells psychischer Störungen
„(Disease) is a construct that conceptualizes a constellation of signs and symptoms as due to an underlying biological pathology, mechanism and cause.“
P. McHugh & T. Slavney[iii]
Es ist hilfreich, sich zunächst die große historische Bedeutung des medizinischen Modells in Erinnerung zu rufen. Seit der Etablierung des solidarpathologischen Paradigmas und der experimentellen Methodologie hat die Biomedizin immense Fortschritte gemacht. Die Strategie – ausgehend von zunächst vagen Funktions- bzw. Fehlfunktionszuschreibungen – mutmaßlich Mechanismen sukzessive genauer zu lokalisieren und zu dekomponieren, hat eine eindrucksvolle Transparenz der Strukturen und Funktionszusammenhänge des menschlichen Körpers ermöglicht (Bechtel & Richardson, 1993; Craver & Darden, 2013; Hall, 1969; Tomlinson et al., 1997). Wer dieser Tage ein neueres Lehrbuch der humanen Physiologie oder Pathophysiologie durchblättert (z. B. Braun & Anderson, 2017), kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass wir die Funktionslogik der Organe kennen und insofern wissen, wie Fehlfunktionen im Prinzip therapeutisch zu begegnen wäre.
Es ist folglich naheliegend, das medizinische Modell auch auf das Feld der Psychopathologie anzuwenden. Zunächst versucht man, im Flux vieldimensionaler pathologischer Phänomene wiedererkennbare Gestalten auszumachen, genauer zu beschreiben und schließlich zu definieren. Die Frühphase der modernen Psychiatrie illustriert die Bemühungen, die wichtigsten Formen psychischer Gestörtheit syndromal zu definieren (vgl. z.B. Kraepelin, 1899; Schneider, 1962). In einem zweiten Schritt wird versucht, die gemeinsame Ursache der kovariierenden Symptome zu identifizieren. Es muss, so wird unterstellt, pathologische Prozesse geben, die für die Gleichförmigkeit und Widererkennbarkeit einschlägiger Syndrome verantwortlich sind. Der Umstand, dass dieser zweite Schritt im Falle der Erforschung „neurologischer Erkrankungen“ schon früh von Erfolgen gekrönt war, hat die Aussicht auf eine neuropathologisch begründete, psychiatrische Nosologie jahrzehntelang als geradezu unbezweifelbar erscheinen lassen. Beispielhaft sei in diesem Zusammenhang Aloys Alzheimers erste Beschreibung der pathologischen Signatur der nach ihm benannten Form der Demenz erwähnt: Es gelang ihm, im Gehirn seiner an einer fortschreitenden Demenz verstorbenen Patientin Auguste Deter die pathologischen Phänomene zu identifizieren, die bis heute zur pathologischen Signatur der Alzheimerischen Krankheit zählen (Alzheimer, 1907). Hinzu kommt, dass eine Vielzahl somatischer Erkrankungen das Erscheinungsbild psychische Störungen imitieren kann – vom Pankreaskarzinom bis zum Vitamin B12-Mangel. Angesichts des immensen Forschungsaufwands, der sich heute der Elaborierung einschlägiger psychischer Störungstypen widmet, ist es mehr als verwunderlich, dass keine dieser Bemühungen – und sei es auch nur anhand eines einzigen biologischen Markers für eine psychische Störung – bislang erfolgreich war.
Aus systemimmanenter, der etablierten Forschungslogik folgender Sicht erscheinen insbesondere zwei Schwierigkeiten erwähnenswert, die den infrage stehenden Misserfolg erklären könnten. Erstens, wenn die bis heute maßgeblichen Syndromdefintionen invalide sind, insofern sie keine pathogenetisch homogenen Klassen zu bilden erlauben, dann scheitert das Projekt an einem durchsichtigen Explanandum-Problem: Die gewählten Kategorien bzw. Syndrom-Defintionen taugen nicht zu dem Zweck, den Weg zur Identifikation des Störungsmechanismus zu weisen. Zweitens, wenn ähnliche klinische Erscheinungsbilder auf verschiedene Weisen verkörpert sein können, dann wird es schwierig bis unmöglich die störungstypische Pathogenese zu identifizieren. Das Problem der sogenannten „multiplen Implementierbarkeit“ oder besser der Degeneriertheit zentralnervöser Struktur-Funktions-Beziehungen ist heute nicht länger von der Hand zu weisen. Es gilt als ausgemacht, dass das Gehirn über weite Strecken verschiedene Funktionen mit denselben neuronalen Netzwerken implementieren kann (Anderson, 2016). Dieser Umstand konstituiert ein Explanans-Problem, das darin besteht, dass es nicht angeht, dass diverse, unterschiedliche Aktivitätsmuster dasselbe Explanandum erklären können. Um es noch einmal zu betonen: Ich bin ein Anhänger des medizinischen Modells von Krankheit. Dieses hat sich ohne Frage als eine - historisch gesehen - außerordentlich erfolgreich Forschungsheuristik erwiesen. Allerdings bin ich der Meinung, dass das medizinische Modell nicht auf den Gehirn-Psyche-Verhaltens-Zusammenhang passt. Um dies zu belegen, werde ich versuchen, die Wurzel der indeterminierten Gehirn-Geist-Beziehung anhand des Phänomens der Degeneriertheit zu erhellen. Dabei ist klar, dass die Struktur-Funktions-Beziehungen im Nervensystem nicht vollständig degenerierter Art sein können. Deutlich macht dies allein schon der Umstand, dass es pathologisch klar bestimmte Typen zentralnervöser neurologischer Erkrankungen gibt. Dem entsprechend werde ich in der nachfolgenden Diskussion der systemimmanenten Gründe versuchen, den Unterschied zwischen neurologischen und psychischen Störungen zu erhellen.
Das Explanandum-Problem invalider Störungsdefinitionen
„Ninety years have now elapsed since Kraepelin first provided the framework of a plausible classification of mental disorders. Why then, with so many potential validators available, have we made so little progress since that time? (…) One important possibility is that the discrete clusters of psychiatric symptoms we are trying to delineate do not actually exist.”
R.E. Kendell[iv]
Das im Folgenden zu belegende Problem falscher klinischer Hypothesen ist bekannt, wird breit diskutiert und selbst von der DSM-5 eingeräumt, insofern „… psychische Störungen untereinander nicht immer eindeutige Grenzen aufweisen“ (APA, 2013). Schauen wir kurz dem diagnostizierenden Kliniker über die Schulter, ehe wir das Problem, dass die kanonisierten Taxa nicht geeignet sind, das „Wesen“ mutmaßlicher Störungstypen zu erfassen, genauer in den Blick nehmen.
Dem erfahrenen Kliniker ist klar, dass konkrete Störungsexemplare dem kanonisierten, syndromalen Prototyp mal mehr, mal weniger ähneln. Er steht dabei in einem Spannungsverhältnis gegenläufiger Motive: Auf der einen Seite sollen die praktischen Anforderungen an effektive Kommunikation, Abstimmung, Arbeitsteilung und – nicht zuletzt – die Abrechenbarkeit ärztlicher Leistungen sichergestellt werden. Hierzu genügt es, die Krankheitsbilder mit hinreichender Übereinstimmung unter „nosologische Kürzel“ zu subsumieren. Auf der anderen Seite erfordert eine effektive Behandlung des Patienten die Berücksichtigung individueller Bedingungen. Ob Pharma-, Psycho- oder Soziotherapie: jeder Patient reagiert anders, was eine sukzessive Personalisierung der Fallkonzeption und des therapeutischen Vorgehens im Dienste des Behandlungserfolgs erforderlich macht.
Der erfahrene Kliniker sieht deutlich, dass die Subsumption unter offizielle Diagnosen dem Einzelfall „Gewalt“ antut: dieser muss passend gemacht oder als „nicht näher bezeichnete“ X-Störung kodiert werden.[v] Gleichwohl neigt der erfahrene Kliniker dazu, die Typizität psychischer Störungen zu verteidigen. Dies liegt offenkundig daran, dass das etablierte kategoriale nosologische Denken das ganze Handlungssystem „Psychiatrie“ organisiert. Die Art, wie Psychiater denken, ist wesentlich eine nosologische. Der Einsatz gestellter Diagnosen zu Zwecken wie Planung der Therapie, Auswahl der Medikation, Einschätzung der Behandlungsdauer und Prognose und vieles mehr hängen eng mit der Annahme zusammen, dass es valide nosologische Unterscheidungen gibt. Ohne diese Annahme kämen weitere zentrale Überzeugungen des Fachs unter Druck, etwa die Überzeugung, dass es differentielle Therapieeffekte gibt, dass sich Vertreter verschiedener Störungstypen signifikant unterscheiden etc. All diese - evidenziell gesehen - eher schwach abgesicherten Überzeugungen kommen nur dank der ständigen Reifikation etablierter nosologischer Unterscheidungen nicht ins Wanken. Das Handlungssystem „Psychiatrie“ erinnert somit an die alte Dominotheorie: fällt ein Stein, fallen alle – was nicht weniger als eine Krise des Fachs zur Folge hätte.[vi]
In diesem Kontext wird verständlich, warum Kliniker dem Problem vager, einerseits zu weiter, andererseits zu enger Störungsdefinitionen wenig Beachtung schenken. Beginnen wir mit dem Problem zu weiter Störungsdefinitionen am Beispiel der häufigsten psychischen Störung – der Depression. Die DSM-5-Definition des depressiven Syndroms ist derart weit, dass zwei Personen korrekt als „depressiv“ diagnostiziert werden können, ohne ein einziges Symptom zu teilen. Die Definition fordert zwei unterschiedliche Kardinalsymptome (vgl. #1 & #2) zuzüglich mindestens vier weiterer aus einer Liste von insgesamt neun Symptomen, die sich z. B. wie folgt verteilen können:
Frau Müller | Herr Schmidt |
(1) Depressive Verstimmung | (2) Verringertes Interesse oder Freude |
(3) Appetitlosigkeit/Gewichtsverlust | (3) Appetitssteigerung/Gewichtszunahme |
(4) Insomnie | (4) Hypersomnie |
(5) Psychomotorische Unruhe | (5) Psychomotorische Verlangsamung |
(7) Gefühle von Wertlosigkeit oder unangemessene Schuldgefühle | (6) Erschöpfung oder Energieverlust |
(9) Lebensüberdruss, Selbstmordgedanken | (8) Denk-, Konzentrationsstörungen, Entscheidungsschwäche |
Die vollständige Disjunktion der Symptome zweier korrekt diagnostizierter Fälle verletzt nicht nur die intuitive Annahme des medizinischen Modells, der zufolge ähnlichen Erscheinungen ähnliche Ursachen zugrunde liegen dürften. Sie zwingt uns - angesichts unseres Wissens um die somatischen Korrelate vieler der genannten Symptome - zudem zu dem absurden Befund, dass bei Frau Müllers und Herrn Schmidts Depression genuin verschiedene pathogenetische Prozesse am Werke sind. Kognitive Hyper- vs. Hypoaktivität, Insomnie vs. Hypersomnie, Gewichtsverlust vs. Gewichtszunahme, Erschöpfung vs. Unruhe etc. sind auf die Aktivität unterscheidbarer bzw. gegenläufiger physiologischer Prozesse zurück zu führen.[vii]
Dass polythetische, eine Reihe diagnostischer Kriterien aufzählender Störungsdefinitionen ein heterogenes Spektrum valide diagnostizierter Fälle generieren, ist bekannt. Neben den oben beispielhaft erwähnten disjunkten Paaren (ohne jede Symptomüberlappung) sind dabei viele Fälle sehr geringer Ähnlichkeit – etwa bei Übereinstimmung hinsichtlich nur eines Merkmals oder von zweien – insofern beklagenswert, als diese geringe Übereinstimmung wenig geeignet erscheint, die angenommene Typenidentität zu substanziieren. Olbert et al. (2014) haben das Problem sowohl theoretisch als auch empirisch (an großen Datensätzen) für diverse Störungstypen untersucht. Im Falle der Majoren Depressiven Störung zeigte sich, dass sich die enorme Heterogenität der Symptomverteilung (von theoretisch möglichen 277 Merkmalskombinationen nach DSM-IV-TR) in drei verschiedenen epidemiologischen Samples nachweisen ließ: nur relativ wenige Patientenpaare teilen kein einziges Symptome, recht viele Paare teilen nur ein oder zwei Symptome und die Mehrheit der Diagnostizierten teilt rund etwas mehr als die Hälfte der Symptome. Dies zeigt, dass die ursprüngliche Absicht der Begründer der operationalen Diagnostik, dank verbesserter Interrater-Reliabilität der Diagnosestellung auf die Dauer auch deren Validität zu verbessern, kein Selbstläufer ist. Die Betonung operational definierter Symptome führt offensichtlich zu einer Heterogenität, die der Erforschung der Pathogenese – dem eigentlichen „Validitätsanker“ – nicht zuträglich ist.
Die kanonisierten diagnostischen Kategorien sind nicht nur zu weit, wie eben erläutert; sie sind zugleich auch zu eng. Deutlich wird dies anhand der zeitlichen Instabilität klinischer Erscheinungsbilder, der ubiquitären Komorbidität und dem arbiträren Charakter vieler Störungsdefinitionen.
Phänotypische Instabilität der Syndrome. Eindeutig diagnostizierte Störungstypen verändern sich nicht selten derart im Verlauf, dass die Diagnose korrekterweise geändert werden muss. Klassische Beispiele sind Angststörungen, die im weiteren Verlauf als Depressionen imponieren (Baca-Garcia et al., 2007), bzw. Essstörungen, die ihren Phänotyp in langjährigen Verläufen wiederholt wechseln können. Im Falle der Essstörungen ist die Tendenz zum „Syndrom-Shift“ zwischen Anorexie, Bulimie, Binge Eating-Störung und (seltener) Adipositas derart ausgeprägt, dass führende Essstörungsexperten eine transdiagnostische Konzeption der Essstörungen fordern (Fairburn et al., 2003). Wenn diesen wandlungsfähigen affektiven Störungen und Essstörungen definite Störungsmechanismen zugrunde liegen würden, dann dürften diese Mechanismen kaum anhand variierender „Momentaufnahmen“ zu identifizieren sein. Auf jeden Fall wird die Hoffnung, dass pathognomonische klinische Erscheinungen den Weg zur Elaborierung des Pathotyps bahnen, durch diese Befunde klar konterkariert.
Komorbidität. Die meisten ernsthaft psychisch kranken Patienten weisen mehr als eine DSM-5-Diagnose auf. Je konsequenter validierte Messinstrumente eingesetzt werden, etwa SKID I + II, desto mehr Diagnosen sind zu stellen (Andrews et al., 2002; Kessler et al., 1994). Diese ubiquitäre Überlappung der Phänotypen wirft zwei drängende Fragen auf: (i) Mehrdeutigkeit. Nehmen wir das typische Beispiel eines in Behandlung kommenden depressiven Patienten. Die richtlinienkonforme Diagnostik ergibt neben einer rezidivierenden depressiven Störung eine seit vielen Jahren bestehende Zwangsstörung und einen vormaligen, z. Z. remittierten Alkoholismus sowie zwei verschiedene Persönlichkeitsstörungen – eine so genannte Borderline Persönlichkeitsstörung und eine ängstlich-zwanghafte Persönlichkeitsstörung. Woran leidet dieser Patient nun eigentlich? Wenn man bedenkt, dass die pathogenetisch präzise Diagnose den Weg zur wirksamen, weil gezielt kausal intervenierenden Therapie führen soll, ist diese Frage keineswegs irrelevant. Sie lässt sich i. d. R. nicht anhand schlüssiger Studienergebnisse beantworten, sondern bleibt dem handwerklichen Geschick des Klinikers und seiner individuellen Fallkonzeption überlassen. (ii) Validität. Ein naheliegender Grund für Komorbidität besteht in der Tatsache, dass manche Störungsdefinitionen dieselben Symptome beinhalten. Dies heißt bezogen auf unser Thema, dass die Definitionen entweder deskriptiv unangemessen sind, weil sie nicht trennscharf genug formuliert wurden, oder dass sie deskriptiv unangemessen sind, weil sie die tatsächlichen Symptom-Cluster nicht abbilden. So oder so bleibt das Problem, dass die etablierten Taxa oft zu eng sind, um die Mehrdimensionalität psychopathologischer Beeinträchtigungen abzubilden. M. E. zeigt dies erneut, dass das Bemühen um Reliabilität und das Ziel verbesserter Validität divergieren: Klar umrissene, den prototypischen Kern des Erscheinungsbildes definierende Definitionen können die Einhelligkeit des Diagnostizierens verbessern. Da viele Patienten mehr als einem dieser Prototypen entsprechen, geht dieser Zugewinn an Reliabilität eindeutig auf Kosten der Validität.
Arbiträre Definitionsmerkmale. Besonders störend ist es, wenn die Autoren der Störungsdefinitionen ihre eigenen Forderungen mutwillig verletzen. Willkürliche Festlegungen sind ohne Frage das Gegenteil des Bemühens um deskriptive Angemessenheit. Ein offenkundiges Beispiel für diese Art der Inkohärenz betrifft die Zeitkriterien. Um die Kriterien einer depressiven Episode seit der DSM-III (1980) zu erfüllen, müssen die Kriterien der Episode mindestens zwei Wochen bestehen. Warum zwei Wochen? Ist eine depressive Verstimmung von nur einer Woche etwa keine Depression? Und warum spielen Erkenntnisse über die durchschnittliche Episodendauer – meist mehrere Monate - keine Rolle? Das Problem nicht empirisch begründeter Abgrenzungen tritt an vielen Stellen auf. Ein interessanteres Beispiel kommt anhand der geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Inzidenz der Depression ans Licht: Epidemiologischen Erhebungen zufolge leiden Frauen gut doppelt so häufig an Depression wie Männer (Kessler et al., 1994). Dabei ist schon lange bekannt, dass depressive Männer andere Symptome aufweisen als Frauen. Stärker „externalisierende“ Symptome wie Wut und Ärger, selbstzerstörerisches Verhalten, Ablenkung, Abstumpfung mittels Substanzgebrauch, Spielsucht, „Womanizing“ oder Arbeitssucht sind bei depressiven Männern häufig (Bebbington, 1998), gelten aber nicht als Kriterien der Depression. Würde man diese Symptome nosologisch berücksichtigen, löst sich der erwähnte Gender Gap auf (Martin et al., 2013). Die vermeintliche epidemiologische Tatsache erweist sich somit als Artefakt einer wenig geschlechtsneutralen Störungsdefinition.
Ob die kanonisierten Störungsdefinitionen nun zu weit oder zu eng sein mögen: sie taugen auf keinen Fall als „pathognomonische“ Wegweiser einer pathologisch begründeten, validen Nosologie. Dabei ist die Schwierigkeit, anhand der klinischen Syndrom-Definition die pathologische Signatur zu ermitteln, ohne Zweifel auf die hochgradig vermittelten und zugleich variablen Beziehungen zwischen klinischer Phänomenologie und den kausalen Bedingungen des Geschehens zurück zu führen.
Endophänotypen und Research Domain Criteria als Alternativen
Die Problematik fragwürdiger deskriptiver und klassifikatorischer Validität ist nicht ohne Lösungsvorschläge geblieben. Die zwei im Folgenden erwähnten Lösungsverschläge bleiben dem medizinischen Modell treu, fordern jedoch eine Orientierung an Phänotypen, die in direkterer Beziehung zum Pathomechanismus stehen. Dies ist begrüßenswert, wenn es zu einer Verbesserung unseres Wissens und unserer Behandlungsmöglichkeiten führt. Doch hätte ein Erfolg dieser Ansätze einen Preis, von dem ich nicht weiß, ob der Mainstream bereit wäre, diesen zu zahlen. Der Preis bestünde in einer zunehmenden Personalisierung der Diagnostik, mit der Folge, dass „allgemeine Störungstypen“ erst keine praktische Rolle mehr spielen würden und schließlich ganz verschwänden.
Die Erforschung von Endophänotypen. Endophänotypen sind vom Einfluss moderierender Variablen „bereinigte“, möglichst „direkt“ dem Pathomechanismus entspringende Phänotypen (Gottesman & Gould, 2003). Um dieses Ziel zu erreichen, versucht man zunächst die Mechanismen, die am Zustandekommen einer Störung beteiligt zu sein scheinen, zu identifizieren, zu normieren und dann für die klinische Diagnostik zu nutzen. Hasler et al. (2004) haben in einer eindrucksvollen, den Stand der damaligen Depressionsforschung zusammenfassenden Übersichtsarbeit, acht „psychologische“ und zehn „biologische“ Kandidaten relevanter Endophänotypen der Depression vorgeschlagen. Diese reichen von psychopathologischen, vegetativen und motorischen Verhaltensauffälligkeiten bis zu messbaren Anomalien des Schlafs sowie verschiedener Gehirnfunktionen, der Volumenreduktion bestimmter Gehirnregionen, pharmakologischen Sonden und neuroendokrinen Tests. Stellen wir uns vor, ein solcher „Fehlfunktionsplan“ der Depression wäre valide und praktisch anwendbar: Was würden wir beim Einsatz der entsprechenden Untersuchungs- und Testbatterie bei unseren Patienten finden? Ganz sicher individuelle Mosaike von Endophänotyp-Parametern, die von „unauffällig“ bis „stark pathologisch“ – in allen denkbaren Kombinationen - reichen. Die so erreichte Personalisierung der Diagnosestellung ist sicherlich therapeutisch erstrebenswert. Zugleich dient sie sicher nicht dem Ziel, die Pathologie der Depression zu erhellen.
Der Research Domain Criteria (RDoC)-Ansatz. Der von Tom Insel initiierte RDoC-Ansatz geht über die Erforschung von Endophänotypen hinaus. Er schlägt vor, die Karten radikal neu zu mischen und alle zweifelhaften Traditionen über Bord zu werfen. Die pathogenetische Forschung solle sich nunmehr ausschließlich an der Rolle definierter, potentiell pathogener Gehirnmechanismen orientieren. Zu diesem Zweck wird eine Matrix vorgeschlagen, die die relevanten Gehirnsysteme den empirischen Domänen gegenüberstellt. Relativ zu definierten Systemen, wie der „negative valence domain“, sollen über alle Ebenen – von Risikogenen bis zu sozialen Konflikten – domänenbezogenen Daten gesammelt werden, deren Ziel es sein soll, Aufbau, Funktionsweise und etwaige Fehlfunktion des Systems zu erhellen. Ich zweifele aus Gründen, die uns in den nächsten Abschnitten beschäftigen werden, ebenso an der Validität der Einteilung der für Verhaltensdomänen verantwortlich gemachten Gehirnsysteme wie an den Erfolgsaussichten, stabile empirische Beziehungen zwischen Gehirnsystemen und den Verhaltensdomänen zu etablieren. Aber ganz gleich, wie es um den Erfolg des RDoC-Ansatzes oder seiner Revisionen zukünftig bestellt sein mag: Auch dieser wird im Erfolgsfall die Einsicht, dass psychische Störungen individuelle Störungen sind, befördern.[viii]
Das Explanans-Problem degenerierter Gehirnfunktionen und ihrer Störungen
„I can calculate the heavenly bodies, but not the madness of people.“
Sir Isaac Newton
Das Projekt einer Klassifikation psychischer Störungen anhand distinkter Formen der Ätiopathogenese muss nicht notwendig an invaliden klinischen Syndromdefinitionen scheitern. Der Anspruch, pathogenetisch eindeutige nosologische Entitäten zu etablieren, kann im Prinzip auch von der pathogenetischen Seite her eingelöst werden.[ix] Es gibt genügend Beispiele, die zeigen, dass sich das Problem unklarer klinischer Hypothesen lösen lässt, wenn erst einmal zuverlässige biologische Marker gefunden sind. Die Kombination dieser Marker mit herkömmlichen Syndromen erlaubt eine Differenzierung der Syndrome in marker-negative und marker-positive Teilspektren, die zum Ausgangspunkt erfolgreicher, weiterführender, mechanistischer Analysen werden können. Dieses Vorgehen hat es z. B. ermöglicht, dass ein klinisch so heterogenes und wechselvolles Krankheitsbild wie die multiple Sklerose dank des Nachweises von Markern einer entzündlichen, demyelinisierenden Pathogenese zu einer nosologisch eindeutigen Größe geworden ist.
Betrachten wir nun mögliche Probleme auf der Explanans-Seite, die den Nachweis pathogenetischer Zusammenhänge bei psychischen Störungen erschweren könnten. Derartige Probleme sind eindeutig dann zu erwarten, wenn das Prinzip der lokalen Spezialisierung definierter zentralnervöser Strukturen verletzt wird. Ohne eine hinreichend robuste Koppelung bzw. Konvergenz von neuronalen Strukturen und den Funktionen, die diese Strukturen realisieren, wird es schwer, patho-mechanistische Erklärungen gestörter Funktionen in der bisher vertrauten Form zu liefern. Genau dies aber – die Divergenz zwischen Gehirnstrukturen und deren Aktivitäten und Funktionen - ist m. E. ein wesentliches Merkmal psychischer Störungszustände. Diese Divergenz markiert das Explanans-Problem des medizinischen Modells psychischer Störungen. Um es möglichst deutlich zu sagen: Die kausalen Realitäten des „psychisch gestörten Gehirns“ stellen das diagnostische Ideal pathognomonischer Krankheitszeichen geradezu auf den Kopf. Das Ideal des Diagnostizierens, etymologisch: des „wissenden Unterscheidens und Durchschauens“, unterstellt, dass bestimmte Organstrukturen bestimmte Funktionen realisieren. Werden diese Strukturen verletzt bzw. in der Ausübung ihrer Funktionen behindert, so kommt es zu Funktionsdefiziten, die auf der klinischen Ebene – idealerweise - in pathognomonischer, d. h. einen Krankheitstyp eindeutig kennzeichnender Form, in Erscheinung treten. Diagnosen zielen somit auf Durch-Blick: Je „chaotischer“, d. h. wechselvoller, dynamischer und kontingenter, die verhaltensgenerierenden Wechselwirkungen im System sind, desto schlechter wird sich dieses durchschauen bzw. pathogenetisch eindeutig typisieren lassen.
„Degeneriertheit“ - ein Grundprinzip biologischer Systeme
Verstehen wir, wie das Gehirn funktioniert? Wissen wir, wie psychische Leistungen - oder auch deren Ausfall – zustande kommen? Wir wissen eine Menge über den Aufbau des Nervensystems, die Mikrostruktur der beteiligten anatomischen Strukturen und deren Mitwirken bei der Realisierung definierter lokaler Mechanismen bzw. entsprechender Leistungen; wir verfügen zudem über endlos viele Bildgebungsdaten, die die differentielle Aktivierung mehr oder weniger großer Gruppen von Gehirnen unter definierten Bedingungen widerspiegeln. Gleichwohl wissen noch nicht einmal ansatzweise, wie sich neuronale Netzwerke kontextabhängig selbst so organisieren und arbeiten, dass definierte psychische Leistungen zustande kommen.
Was bei der Betrachtung dieser Wissensbestände auffällt, ist, dass die Struktur-Funktions-Beziehungen auf allen bekannten Ebenen regelmäßig degenerierter Art sind. Als „degeneriert“ bezeichnet man in diesem Zusammenhang den Umstand, dass das Zusammenspiel strukturell verschiedener Elemente dieselbe Funktion, denselben Output generieren kann (Edelman & Gally, 2001). Die Beziehung zwischen biologischen Mechanismen und realisierter Funktion ist in diesem Fall eine Viele-zu-eins-Beziehung. Dreht man die Richtung desselben Phänomens um, so spricht man von Pluripotenz, d. h. einer Eigenschaft eines Mechanismus, seine Funktionen im Sinne einer Eine-zu-viele-Beziehung ausweiten zu können. Die meisten Theoretiker verwenden den Begriff der „Degeneriertheit“ im Sinne einer bi-direktionalen Inter-Ebenen-Beziehung, sodass i. d. R. Viele-zu-Viele-Beziehungen gemeint sind. Der (zugegebenermaßen missverständliche) Begriff „Degeneriertheit“ wurde aus der Quantenmechanik übernommen, als man feststellte, dass der genetische Kode über 64 „Zeichen“ (Nukleinsäure-Tripletts) verfügt, um 20 verschiedene Aminosäuren zu kodieren.[x] Seitdem ließen sich degenerierte Struktur-Funktions-Beziehungen auf allen Ebenen des biologischen Geschehens nachweisen – von den erwähnten Nukleotidsequenzen, Proteinfaltungen und selbstorganisierenden metabolischen Pfaden und Genexpressionsnetzwerken, über synaptische Plastizität, die Bildung und Organisation lokaler Zellnetzwerke und der Aktivität ganzer Konnektome, bis hin zur variablen motorischen Implementierung von Handlungen, der Anwendung von Regeln und der menschlichen Kommunikation im Allgemeinen (Edelman & Gally, 2001).[xi]
Drei Beispiele sollen genügen, um die Dimension und Bedeutung des Phänomens zu illustrieren:
(i) Genetische Knockout-Experimente. In rund einem Drittel aller Knockout-Experimente, in denen als relevant erachtete Kandidaten-Gene gezielt (im Tierexperiment) ausgeschaltet wurden, lassen sich keine phänotypischen Veränderungen nachweisen. Offensichtlich sind in diesen Fällen die beteiligten Genexpressionsnetzwerke in der Lage, den Ausfall des Kandidatengens zu kompensieren (Edelman & Gally, 2001).
(ii) Zufällig entdeckte Gehirnanomalien. Im Zeitalter routinemäßiger Bildgebung finden sich nicht selten Fälle gravierender Gehirnanomalien, ohne dass von den Betroffenen signifikante Defizite bekannt wären (Friston & Price, 2003). (Zu den Klassikern auf diesem Feld zählt der Hydrozephalus und die Corpus callosum-Agenesie.) Vor wenigen Jahren wurde ein besonders drastischer Fall einer 20-jährige Chinesin bekannt, die wegen Hirndruckzeichen neurologisch untersucht wurde. Im Kernspin fand sich eine vollständige Cerebellum-Agenesie. Zugegeben: die Patienten war erst mit 7 Jahren in der Lage gewesen, eigenständig zu Laufen, und sie hat spät zu sprechen gelernt. In der neurologischen Untersuchung bot sie das Bild einer orientierten, sich sprachlich verständlich machenden Person mit unsicherem Gangbild, Stimmtremor, undeutlicher Aussprache und den typischen, wenn auch relativ gering ausgeprägten Anzeichen einer cerebellären Ataxie (Yu et al., 2014). Wie ist es möglich, dass das Nervensystem die Nichtanlage der meisten Neurone im Zuge einer langsamen Entwicklung – wenn auch nicht perfekt – kompensieren kann?[xii]
(iii) Polymorphismen der menschlichen Physiologie. Wie hat sich der menschliche Organismus an das Leben in großer, sauerstoffarmer Höhe angepasst? Die Antwort lautet: unterschiedlich. Die Bewohner der Anden etwa weisen überdurchschnittliche Hämoglobin-Konzentrationen auf – Ausdruck einer Anpassung durch vergrößerte Sauerstofftransportkapazität. Die Tibeter atmen hingegen schneller, u. a. weil ihre Lungen den Vasodilatator Stickstoffmonoxid vermehrt produzieren – Ausdruck einer Anpassung durch intensivierten Sauerstoffaustausch (Beall, 2007; Mellen, 2010). – Diese drei Beispiele belegen zunächst, dass die Beziehung zwischen Strukturen wie Genen, Gehirnstrukturen oder physiologischen Mechanismen und den Funktionen, die diese realisieren, ein lose, durch viele Bedingungen moderierte Beziehung sein kann. Darüber hinaus zeigen sie, dass einschlägige Deutungsmuster wie ein naiver Essentialismus, deterministische Attributionen oder die generelle Annahme linearer Kausalität bei der Beurteilung biologischer Systeme leicht in die Irre führen können. Wer die exzessive Degeneriertheit biologischer Funktionszusammenhänge verkennt, der tut sich schwer, die Stellung des Lebendigen in der physikalischen Welt zu begreifen: Denn Degeneriertheit ist nicht etwa ein Sonderfall, sondern gilt heute aus systembiologischer Sicht als das Erfolgsrezept lebender Systeme schlechthin – also als Normalfall (Mason, 2015). Ohne dieses „Rezept“ wären wesentliche Merkmale des Lebens auf unserem Planeten – insbesondere Komplexität, Robustheit und Evolvierbarkeit – nicht zu erklären (Whitacre, 2010).
Was bedeutet all dies für die Frage, warum es so schwierig ist, die eigengesetzliche Ätiopathologie mutmaßlicher psychischer Störungstypen zu erhellen? Aus der Sicht der Neurowissenschaftler, mit denen ich das Thema vertieft habe, ist grundsätzlich klar, wie menschliches Verhalten – sei es gestört oder nicht – zustande kommt: Der Organismus generiert Verhalten über eine Reihe von ineinander gestaffelten bzw. auseinander hervorgehenden Emergenz-Ebenen hinweg: Das Genom/Epigenom übersetzt sich ins Transkriptom bzw. das Proteinom, die im Austausch mit der Umwelt das Metabolom der Zelle ausmachen; aufgrund erfahrungsabhängig gesteuerter Genexpression differenzieren sich u. a. Neurone, Gliazellen, Gefäße und Stützgewebe aus; die Neurone knüpfen Verbindungen zu anderen Neuronen, bilden Netzwerke und treten über synaptische Prozesse in Wechselwirkung; aus kleinen, lokalen, selbstorganisierten Netzwerken werden große Netzwerke, die z. T. als Gehirnregionen beschrieben werden bzw. diese mit einschließen; das Gesamtkonnektom des Gehirns schließlich verkörpert die „kognitive Architektur“ des Organismus, die dessen Verhaltensmöglichkeiten bestimmt bzw. im konkreten Fall bestimmte motorische Einheiten ansteuert, um Bewegungen zu initiieren. Zwischen sensibel-sensorischem Input und motorischem Output geschieht auf hyperkomplexe, bis heute mysteriöse Weise das, was wir als „psychische Prozesse“ charakterisieren – auch im Fall psychischer Störung (Markram, 2013). Dabei wird in keiner Weise bestritten, dass besagte Ebenen-Beziehungen emergente Viele-zu-vielen-Beziehungen sind, dass sich das Konnektom erfahrungsabhängig ständig verändert und dass die dabei wirkende Neuroplastizität eine vieldimensionale ist. Die besten Chancen auf eine mechanistische Erklärung definierter Verhaltenssequenzen werden deshalb in „neuro-computationalen“, dynamische neurokognitive Prozesse analysierenden Ansätzen gesehen: Es gilt Algorithmen zu finden, die Psychisches als Ergebnis der Aktivität vieler verschiedener, ineinander gestaffelter und sich transmodal verschränkenden sensomotorischen Schleifen beschreiben können (Thagard, 2008). Je chaotischer dies geschieht, weil Randbedingungen und Kontingenzen großen Einfluss auf die Selbstorganisation dieser Leistungen haben, desto schwieriger wird es sein, „biopsychologische Gesetzmäßigkeiten“ – einschließlich pathogener biopsychologischer Gesetzmäßigkeiten – zu finden.
Als Neurologe könnte man einwenden: Obwohl die Degeneriertheit der Struktur-Funktions-Zusammenhänge über mehrere Ebenen hinweg nicht etwa kleiner, sondern exponentiell größer wird - aus Viele-zu-viele-Beziehungen zwischen zwei definierten Ebenen werden Viele-zu-überabzählbar-vielen von einer Ebene zur übernächsten Ebene – gibt es pathogenetisch eindeutige, die Robustheit degeneriert arbeitender Netzwerke außer Kraft setzende Krankheitsprozesse. In Anlehnung an diese, oft bis in molekulare Wechselwirkungen hinein verstandenen Krankheitsprozesse müsste sich untersuchen lassen, unter welchen Umständen auch die pathogenen Bedingungen psychischer Störungen über mehrere Ebenen bis ins Verhalten durchschlagen.
Nehmen wir drei klassische Beispiele aus der Neurologie, um eine Vorstellung, wie sich diese Frage beantworten ließe, zu entwickeln: die (genetische) Phenylketonurie, die (neurodegenerative) Parkinson’sche Krankheit und die (traumatische) Nervenläsion. Im Falle der Phenylketonurie kommt es zu einer Überladung des Organismus mit Phenylalanin, weil dieser Stoff – aufgrund des genetisch bedingten Fehlens des Enzyms Phenylalaninhydroxylase - nicht in die Aminosäure Tyrosin umgewandelt werden kann, was wiederum zu einem Mangel an wichtigen Stoffen - u. a. Thyroxin und den Katecholaminen - führt. Aufgrund dieser Umstände kommt es zu einer intellektuellen Retardierung, wenn insbesondere in den ersten Lebensjahren Phenylalanin mit der Nahrung zugeführt wird. Im Falle der Parkinson’schen Krankheit kommt es aus diversen metabolischen und oxidativen Gründen zu einem beschleunigten Verlust an dopaminergen Zellen in der Substantia nigra, was sich mit der Zeit in der zunächst motorisch akzentuierten, typischen Parkinson-Symptomatik äußert. Nach traumatischen Nervenläsionen schließlich kommt es zu irreversiblen sensiblen und motorischen Ausfällen im Innervationsgebiet der jeweiligen Nerven. Allen drei Gesundheitsstörungen ist augenscheinlich eines gemeinsam: Die Schädigung bzw. Fehlfunktion betrifft einen „Flaschenhals“ enger Struktur-Funktions-Abhängigkeit, dessen Folgen sich nicht kompensieren lassen. Paradigmatisch zeigt sich am Beispiel der Nervenläsion: ohne „abpuffernde“, degenerierte Prozesse übersetzen sich Strukturschädigung unmittelbar in Funktionsausfälle. Selbst „diffuse“ zentralnervöse neurologische Erkrankungen sind allein deshalb aufgeklärt worden, weil ihre pathogenen Prozesse Strukturen affizieren, deren Funktionen kritisch bzw. nicht kompensierbar sind.
Man kann diese These testen, indem man die pathogenen Auswirkungen von Gehirnläsionen in Abhängigkeit von ihrer Position im Konnektom untersucht. Die Topologie dieses immensen Netzwerks von Nervenverbindungen lässt sich mit Hilfe mathematischer Modellierungen wie folgt genauer analysieren: Die quantitativen Werte aus Bildgebungsuntersuchungen werden in Knoten (häufig aktive Gehirnstrukturen bzw. „nodes“) und dicke oder dünne Kanten („edges“, die den Grad der Konnektivität markieren) zwischen den Knoten übersetzt. Dabei zeigt sich, dass stärker vernetzte Knoten um Naben („hubs“) herum organisiert sind. So ergibt sich das Bild einer strukturellen Topologie des Gehirns, die sich in „natürliche“ Teilnetzwerke gliedert. Das „zentrale Autobahnnetz“ des Gehirns - das Sub-Netzwerk, dass die mächtigsten Naben bzw. die „dicksten Kabelbündel“ zusammenfasst - wird als „rich club“ bezeichnet. Crossley et al. (2014) haben die Hirnläsionsdaten von über 20.000 Patienten mit unterschiedlichen Störungen auf einen zuvor anhand von gesunden Probanden normiertes Modell des „rich club“ projeziert und fanden, was zu erwarten war: Kernspintomographisch nachgewiesene Läsionen diverser Gehirnkrankheiten betrafen häufiger den „rich club“ als das übrige Konnektom (P < 104, Permutationstest). Die Autoren kommen nach einer Reihe weiterer intrikater Analysen zusammenfassend zu dem Schluss, dass
„… the high cost/high value hubs of human brain networks are more likely to be anatomically abnormal than non-hubs in many (if not all) brain disorders“ (Crossley et al, 2014: 2382).
Damit zeichnet sich eine Erklärung des Unterschieds zwischen zentralnervösen neurologischen Erkrankungen und durch zentralnervöse Funktionsstörungen bedingte psychische Störungen ab: Wenn der funktionelle Flaschenhals nicht-degenerierter Struktur-Funktions-Beziehungen betroffen ist, dann treten Erkrankungen auf, die durch hinreichend eindeutige Pathotyp-Phänotyp-Beziehungen im Sinne des medizinischen Modells charakterisierbar sind. Wenn hingegen hochgradig degenerierte Struktur-Funktions-Beziehungen gestört werden, dann dürfte sich die Zuordnung zu robust replizierbaren Patho-Typen als schwierig erweisen – wie es bei psychischen Störungen der Fall ist.
Dieser Befund passt gut zu aktuellen Versuchen, die Robustheit biologischer Systeme zu modellieren (Whitacre, 2012). Ein in der Systembiologie etabliertes Konzept beschreibt so genannte „bow tie“-Strukturen in der Beziehung zwischen verschiedenen Organisationsebenen komplexer Organismen - Beziehungen, die man eigentlich besser als „Uhrglas-Strukturen“ bezeichnen würde, weil es ja um horizontal gedachte Ebenen-Beziehungen geht. Dabei steht der untere und der obere Bauch des Uhrglases – oder die beiden Fächer einer Fliege - für „aufgefächerte“, degenerierte Netzwerkaktivitäten, während die Taille des Uhrglases – der Knoten der Fliege – für die Zwischenebene nicht-degeneriert operierender „Flaschenhals“-Strukturen steht. Bezogen auf die Befunde des letzten Absatzes heißt dies: Die Taille bzw. der Knoten bildet die strukturelle Achillesferse des Systemzusammenhangs. Wenn diese verletzt wird, kann es zu „durchschlagenden“ pathologischen Folgen kommen.
Solche Uhrglas-Strukturen findet sich, wohin man schaut – auf den Ebenen der Moleküle, Zellen, Gewebe, Organe, Individuen und sozialen Netzwerke, in vielen Organsystemen wie dem Zellstoffwechsel, dem Nervensystem und dem Immunsystem und bei vielen Steuerungs- bzw. Kommunikationsprozessen im Organismus (Whitacre, 2012). Dabei ist klar, dass degenerierte Funktionsnetzwerke nicht als grenzlose Alleskönner operieren, sondern sich an „Strukturvorgaben“ – verdeutlicht durch die Taille der Uhrglasstrukturen – orientieren müssen. Wenn das Protein nicht in der richtigen Konformation vorliegt, kann es den anstehenden Prozess nicht katalysieren; wenn die homöostatischen Mindestanforderungen einer Zelle unterschritten werden, kann diese keinen Beitrag zum lokalen Zellnetzwerk leisten, weil sie desintegriert; und wenn das Gehirngewebe „equipotent“ arbeiten würde, wie Karl Lashley vermutete, dann würden selbst pathogenetisch aufgeklärte neurologische Krankheitsprozesse zu Mysterien. Lebende Systeme sind offenkundig durch „robust-yet-fragile properties“ gekennzeichnet, die das evolutionär bewährte Gleichgewicht einer Spezies zwischen „fester Form“ („Speziesdesign“) und adaptiver funktioneller Flexibilität ausdrücken. Dabei ist auf den paradox anmutenden Begriffsgebrauch zu achten: Degenerierte Netzwerke verkörpern die Robustheit der Prozesse, aus denen sich die „festen Strukturen“ der Taille der Uhrglasstruktur - etwa eine ganze Zelle - zusammensetzen. Während die Zelle Perturbationen ihrer Genexpressions- oder Stoffwechselnetzwerke gut zu widerstehen vermag, kann sie sich auf Zellebene gegenüber anderen Perturbationen als fragil erweisen. Versucht man diese Befunde synoptisch zusammen zu führen, so ergibt sich das Bild einer vielstöckigen „Sandwich-Struktur“ aus abwechselnd degenerierten, d. h. „chaotisch“ operierenden, deshalb instabil erscheinenden, tatsächlich aber Robustheit generierenden Ebenen, und nicht-degenerierten, statischen, deswegen robust erscheinenden, tatsächlich aber eher fragilen Ebenen. Der Komplexitätstheoretiker Carlos Gershenson (2001) weist zurecht darauf hin, dass unser Blick an den (wenig degenerierten) „Abstraktionsebenen“ hängen bleibt und die (stärker degenerierten) „Komplexitätsebenen“ tendenziell übersieht, weil wir das komplexe, chaotische Geschehen der letztgenannten Ebenen schlecht begreifen. Wir orientieren uns stattdessen an den Ebenen, die unserem Bedürfnis nach perzeptueller Konstanz und unterscheidbaren, mechanistisch verständlichen Strukturen und Prozessen entgegenkommen. Dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese anthropomorphe Perspektive die tatsächlichen Verhältnisse eher schlecht als recht erfasst (Csermely, 2009).
Gershensons Unterscheidung ist hilfreich, wenn man die Beziehung der Ebenen Gehirnstruktur (Konnektom), neuronale Prozesse (Aktivitätsmuster), unbewusste kognitive Prozesse (Informationsverarbeitungsprozesse relativ zu einer psychologischen Theorie) und psychisches Geschehen (aus alltagspsychologischer Sicht) in den Blick nimmt: Ohne Frage handelt es sich bei allen genannten Ebenen um „Abstraktionsebenen“, die durch unsere perzeptuellen Bedürfnisse bzw. durch unsere epistemologischen Praktiken bestimmt sind. (Die degeneriert arbeitenden Netzwerke von Elementen, die der emergenten Konstitution der genannten Ebenen zugrunde liegen, bleiben zunächst außen vor, da wir ihre Rolle nicht erkennen bzw. nicht verstehen.) Die „epistemologischen Praktiken“, dank derer uns die Abstraktionsebenen so vertraut sind, sind nicht etwa Ausdruck epistemologischer Willkür oder wissenschaftlichen Irrealismus; sie sind schlicht der Notwendigkeit geschuldet, dass wir nicht anders können, als die Erscheinungsweisen unterschiedlicher, emergenter Ebenen auf unterschiedliche Weise auf den Begriff bzw. unter kognitive und methodische Kontrolle zu bringen. Fest steht, dass dies nicht mit den Ressourcen einer Einheitswissenschaft machbar wäre. Die unterschiedlichen einzelwissenschaftlichen Zugangsweisen – von Neuroanatomie, über Bildgebung bis zur Alltagspsychologie - sind legitim, weil sie unausweichlich sind. Um Anomalien der Zytoarchitektonik „schizophrener“ Gehirne zu ermitteln, muss man anders vorgehen, als wenn man den Patienten psychopathologisch untersucht.
Dem entsprechend definiert die neuro-psychiatrische Forschung die Ebenen, deren Beziehung sie unter die Lupe nehmen will. Ob dies von „Explanandum-Seite“, etwa in der Form einer normativen Syndromdefinition, oder von „Explanans-Seite“, etwa anhand einer spezifischen These über Funktionen und Leistungen eines Teilnetzwerks geschieht, hängt maßgeblich von praktischen Erwägungen ab.[xiii] Auf jeden Fall muss man das Explanandum im Rahmen wissenschaftlicher Experimente so „herrichten“, dass es methodisch kontrolliert „befragt“ werden kann. Angesichts der guten praktischen Handhabbarkeit der Bildgebungsverfahren liegt es nahe, zunächst die grundsätzliche Beziehung zwischen dem strukturellen Konnektom und den neuronalen Prozessen, die dieses Konnektom während des Beobachtungszeitraums verkörpert, zu untersuchen. Die neuronalen Prozesse sind raumzeitlich distribuierter, (auf unterschiedlichen Zeitskalen) ständig parallel ablaufender Art. Dabei können rund 1015 synaptische Verbindungen in ständig wechselnder Weise genutzt werden. Um sich eine Vorstellung der Komplexität des Geschehens zu machen, stelle man sich vor, dass es Netzwerkaktivierungen sind, die bestimmten psychischen Leistungen zugrunde liegen. Ein solches Netzwerk wird ad hoc durch viele, sich funktionell assoziierende einzelne Neurone gebildet. Ein beteiligtes kortikales Neuron steht durchschnittlich mit 6.000 bis 10.000 anderen Neuronen in struktureller Verbindung. Seine spontane Feuerrate wird durch hemmende und aktivierende Inputs in seinem Rhythmus verändert. Um dessen „Bedeutung“ zu erfassen, muss man berücksichtigen, dass das Neuron Bestandteil ständig wechselnder, sich selbst organisierender Netzwerke ist. Die immens dichte Konnektivität des Gehirns stellt diesem Funktionsprinzip nahezu unbegrenzte Möglichkeiten zur Verfügung: Ständig bilden sich neue „Koalitionen“ von Netzwerken, die sich wieder auflösen, andere Netzwerke unterschiedlicher Stabilität rekrutieren etc. Das Prinzip des „reuse“, d. h. der Widerverwendung einmal genutzter Netzwerkassoziationen zu neuen Zwecken, kommt ubiquitär zur Anwendung (Anderson, 2016). Diesbezüglich kommt Luiz Pessoa (2014) in einer Übersichtsarbeit über die Organisation neuronaler Netzwerke zu dem Schluss, dass deren Struktur-Funktions-Beziehungen grundsätzlich Viele-zu-viele-Beziehungen sind und dass wir z. Z. nicht in der Lage sind, die „wahren Subnetzwerke“ zu bestimmen.[xiv] Selbst die Paradebeispiele der Lokalisation funktionell spezialisierter Gehirnregionen wie das Broca-Areal oder die Amygdalae erweisen sich bei genauer Betrachtung als in sich komplex aufgebaute Strukturen, deren Elemente in unterschiedlichen, sich auf degenerierte Weise ständig neu assoziierenden Netzwerken aktiv sind (Pessoa, 2014).
Um zu untersuchen, was die neuronalen Aktivierungen in den strukturell determinierten Netzwerken bedeuten, müssen wir die psychologische Ebene einschließen. Damit das neuro-psychiatrische Projekt vom Fleck kommen kann, brauchen wir ein Vorverständnis dessen, was das menschliche Nervensystem an Verhalten generiert (vgl. II. Abschnitt). Dabei geht es im weitesten Sinne um „kognitive“ Leistungen. Diese unterscheiden sich – negativ abgegrenzt – von reflexhaften, automatischen Prozessen, insofern sie – positiv charakterisiert – adaptive, einer sich verändernden Situation angemessene Antworten liefern sollen. Es ist unklar, wie innovative, ständig aufs Neue arrangierte neuronale Aktivitätsmuster generiert werden. Zwei begründete Vermutungen sprechen m. E. dafür, dass kognitive Flexibilität von einer flexiblen Nutzung der neuronalen Ressourcen abhängt: (i) Modularität des Konnektoms bzw. der kognitiven Architektur. Im Vergleich mit anderen Spezies fällt auf, dass der Grad der Modularität des Konnektoms und die kognitiven Ressourcen in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis stehen. Kognitive Flexibilität kann demnach nicht allein durch modular organisierte Prozesse geleistet werden. Es bedarf eines Spielraums für trans-modulare „Experimente“ (Geary & Huffman, 2002). (ii) Innovative kognitive Flexibilität. Die meisten Theorien, die sich mit der Frage innovativer kognitiver Verhaltensantworten beschäftigen, gehen von einem Wechselspiel zwischen variantengenerierenden, sogenannten „random walk“-Prozessen und deren Selektion anhand bestimmter Erfolgsstandards aus (Fuster, 2013). In den Theorien komplexer dynamischer Systeme werden innovative Problemlösungen durch schnell wechselnde „weak links“ verwirklicht, während die schwerer veränderbaren „strong links“ zur Integrität des Gesamtsystems bzw. eventuell auch zur Selektion unbrauchbarer Varianten beitragen (Csermely, 2009). Auf dem Hintergrund der vorgetragenen Überlegungen erscheint es mir sehr wohl vorstellbar, dass im Falle psychischer Gestörtheit bevorzugt die „weak links“ adaptiver Netzwerkassoziationen beeinträchtigt sind. – Je mehr dem so ist, d. h. je weniger modular die zentralnervöse Basis des menschlichen Geistes operiert und je stärker die dabei zum Zuge kommenden Verbindungen „schwache“ sind, desto eher dürften Störungen eben dieser Bedingungen zu psychischen Störungen führen, deren Strukturmerkmale nicht zu identifizieren sind.
Ist Schizophrenie eine Gehirnkrankheit?
Ich kann mir gut vorstellen, dass die bisherigen, sehr abstrakten und theorielastigen Überlegungen die Psychiater unter meinen Lesern frustriert haben und möchte deshalb kurz auf die Intuition des erfahrenen Klinikers am Beispiel der sogenannten Schizophrenie eingehen. Egal wie kompliziert das Gehirn arbeiten mag: Wenn man mit Menschen zu tun hat, die an sogenannter „Schizophrenie“ leiden, dann wird man das Gefühl nicht los, es mit „intrinsisch gestörten“ Personen zu tun haben. Platt gesagt: Die Betroffenen ticken einfach nicht richtig. Ich teile dieses Erleben und hatte selbst nie den geringsten Zweifel, dass es sich bei diesem so markanten wie heterogenen Störungsbild um eine biologische begründete, aus Funktionsstörungen des Gehirns erwachsende, vermutlich „dysontogenetische“ (Weinberger & Harrison, 2011), d. h. infolge einer Fehlentwicklung des Konnektoms entstandene, „Krankheit“ handelt. Wenn man einmal von dem Umstand absieht, das Andenken toter, bärtiger Deutscher Psychiater dadurch zu pflegen, dass man ihre nicht selten idiosynkratischen Störungsbeschreibungen endlos reifiziert (Hyman, 2010), dann lässt sich m. E. klar feststellen: Die sogenannte Schizophrenie ist durch interindividuell und zeitlich variable kognitive Funktionsstörungen charakterisiert, die insbesondere die sozialen Kompetenzen der Betroffenen stark beeinträchtigen können. Der fluktuierende Verlauf der Beschwerden scheint dabei durch das Nebeneinander hartnäckiger, ggfs. sogar mit der Zeit zunehmenden Trait-Defizite und andererseits auf situations- bzw. arousalabhängige „State-Störungen“ bedingt zu sein. Aufgrund welcher ätiologischer Bedingungen kommt es zur Ausbildung dieser Spektrumsstörung? Welche Mechanismen sind pathogenetisch für das Auftreten der charakteristischen (?) kognitiven Störungen verantwortlich? Wir kennen die Antworten auf diese Fragen bekanntlich nicht. Nichts desto trotz gehe ich wie beschrieben davon aus, dass sich meine Anschauungen und Intuitionen nicht von denen der meisten meiner geschätzten Kollegen in Sachen „Schizophrenie“ unterscheiden – bis auf einen Punkt: Es könnte doch sein, meine ich, dass jeder Fall von „Schizophrenie“ auf eine besondere, eine mehr singuläre und weniger typische Ätiopathogenese zurück zu führen ist. Wir sollten uns m. E. bemühen, der eigenen Praxis kategorischen Diagnostizierens skeptisch zu begegnen. Denn diese suggeriert eine Einheitlichkeit der vermeintlichen Störungstypen, die sich nicht im empirischen Fortschritt widerspiegelt. Ein kurzer Hinweis auf Befunde aus den drei folgenden Domänen mag dies unterstreichen:
Genetik. Man geht sein über 100 Jahren aufgrund der signifikanten familiären Häufung der Erkrankungsfälle davon aus, dass es sich bei der „Schizophrenie“ um eine genetisch determinierte Erkrankung handelt. Betrachtet man jedoch die bisherigen Untersuchungsergebnisse, so stößt man auf ein Paradox: Auf der einen Seite sprechen Familienhäufigkeit und Konkordanz eineiiger Zwillinge klar dafür, dass genetische Faktoren von Belang sind. Auf der anderen Seite fällt es molekulargenetischen Studien schwer, diesen Eindruck zu untermauern. Vorläufiger Höhepunkt der entsprechenden Forschung ist eine eindrucksvolle „genome wide association study“, die mittels enormer Fallzahlen über 100 verschiedene, schizophrenieassoziierte Gen-Loci ermittelt hat (Schizophrenia Working Group, 2014). Das Problem dabei ist, dass diese vielen Loci nur einen kleinen Teil des genetischen Risikos aufklären – nämlich 23%. Modellrechnungen, die sich mit dem Problem geringer Varianzaufklärung beschäftigen, kommen zu dem Schluss, dass womöglich mehr als 8000 unabhängige Gen-Loci für das tatsächliche genetische Risiko, an Schizophrenie zu erkranken, verantwortlich sein könnten (vgl. z. B. Ripke et al., 2013). Angesichts von insgesamt rund 20.000 protein-kodierenden Genen, von denen rund die Hälfte in einer durchschnittlichen Körperzelle exprimiert wird – in Nervenzellen sind es angeblich mehr -, stellt sich mir die Frage, wo bei einem derart „breiten“ und vermutlich sehr heterogenen, genetischen Risikospektrum die Grenze zwischen „erhöhtem genetischen Risiko“ und „statistisch normalem genetischen Risiko“ gezogen werden soll. Da zudem erfahrungsabhängige epigenetische Veränderungen, die fortschreitende Assimilation fremder Gene sowie unklare Genvervielfachungen in Nervenzellen eine Rolle spielen sollen, kann ich mir vorstellen, dass die sogenannte Schizophrenie ein ätiologisches Rätsel ist und bleibt, da zu viele unterschiedliche Anfangsbedingungen im Spiel sind. Wie und warum sollte ein derartig heterogenes Bedingungsspektrum zu einer widerkennbaren Psychopathologie führen?
Gehirnmorphologie. Doch selbst wenn die ätiologische Dimension aufgrund zu vieler, in methodisch schwerlich kontrollierbare Wechselwirkungen tretender Entwicklungseinflüsse unklar bleiben sollte: Es muss im „schizophrenen Gehirn“ doch eine nachvollziehbare pathogenetische Erklärung geben, warum dieser Patient hier und jetzt z. B. gerade unter produktiven Symptomen leidet. Es ist deshalb naheliegend, mögliche strukturelle Anomalien in vivo mittels bildgebender Verfahren sichtbar zu machen – ein Ansinnen, dass seit über 40 Jahren ohne Erfolg geblieben ist. Selbst in den methodisch besten verfügbaren Studien finden sich keine verwertbaren Hinweise darauf, was an den Gehirnen „schizophrener“ Individuen das Schizophreniespezifische sein könnte (Fusar-Poli & Meyer-Lindenberg, 2016). Wenn sich keine makroskopischen morphologischen Anomalien finden lassen, dann dürften funktionelle Zustände bzw. Aktivitäten für die kognitiven Störungen verantwortlich sein. Natürlich, doch wo steht geschrieben, dass typische Aktivierungsmuster für typische kognitive Störungen verantwortlich sein müssen? Ein Blick auf beliebige fMRT-Studien, die kognitive Prozesse analysieren, zeigt, dass verschiedene Gehirne unterschiedlich – etwa auf semantische Stimuli – reagieren (Noppeney et al., 2004). Die zugrundeliegende Degeneriertheit des Systems wird deutlicher noch, wenn man die Intertrial-Variabilität in den Blick nimmt: Ein-und-dasselbe Gehirn reagiert bei jedem Durchgang anders auf denselben Stimulus. Ich vermute, dass die extrem lose Beziehung zwischen Strukturen, neuronalen Prozessen und psychologischen Leistungen, die derartige Beobachtungen belegen, auch im „kranken“ Gehirn zu finden sind.
Transdiagnostische Perspektive. Was würde eigentlich passieren, wenn man den bisherigen, auf Spezifität zielenden Forschungsansatz umdreht und anstatt nach den Unterschieden zwischen Schizophrenen und Kontrollen zu suchen, nach Ähnlichkeiten zwischen Schizophrenen und allen anderen psychischen Störungen suchen würde? Die Antwort könnte m. E. sehr erhellend ausfallen: Vielleicht sind sich verschiedene psychische Störungen in pathologischer Hinsicht ähnlicher, als wir unterstellen. Eine solche transdiagnostische Strategie zu verfolgen hätte u. a. den Charme, dass wir einige unsere liebgewonnen „klinischen Gewissheiten“ überprüfen könnten.
Nehmen wir z. B. die vermeintlich „störungsspezifische“ Wirksamkeit bestimmter Therapeutika. Viele Kollegen würden am Beispiel der Schizophrenie anführen, dass wir doch alle Neuroleptika einsetzen und dass die Wirksamkeit dieses Behandlungsansatzes etwas über die zugrundeliegenden Bedingungen aussagt. Stimmt das so? Testen wir vermeintlich „störungsspezifische“ Medikamente konsequent bei allen Störungstypen, um deren differentiellen Vorzüge bei der Behandlung einer Indexstörung nachzuweisen? Oder anders gefragt: Kennen Sie eine psychische Störung, bei der Neuroleptika nicht mit relativem Erfolg eingesetzt werden?
Zurück zur Frage spezifischer Gehirnanomalien unterschiedlicher Störungen: Warum sollte es nicht ein gemeinsames, transdiagnostisches Substrat psychischer Störungen geben? Goodkind et al. (2015) haben umfangreiche, voxel-basierte morphometrische Datensätze unterschiedlicher Störungstypen auf ihre Ähnlichkeit untersucht und Überraschendes gefunden: Bei 15.892 Individuen (aus 193 Studien) mit den Diagnosen Schizophrenie, bipolare Störung, Depression, Suchterkrankungen, Zwangsstörung und Angststörungen fand sich ein übereinstimmender Schwund an grauer Substanz in den folgenden drei Bereichen – dem dorsalen anterioren Cingulum sowie der linken und der rechten Insula. Die Autoren spekulieren darüber, ob die bei allen genannten Störungen zu findendem Defizite der exekutiven Kontrolle auf Beeinträchtigungen desselben Netzwerks zurück zu führen sein könnten.
Nachdem die Suche nach störungsspezifischen Risikogenen trotz immer größerer Fallzahlen regelmäßig im Sand verläuft, beginnt man aus der Not eine Tugend zu machen und wirft die Datensätze unterschiedlicher Störungen zusammen. Im Falle zweier Kalzium-Kanal-Gen-Polymorphismen (CACNA1C, CACNB2) zeigte sich, dass diese bei einem breiten Spektrum an Störungen eine Rolle spielen dürften – Autismus, ADHS, bipolarer Störung, MDD und Schizophrenie (Cross-Disorder Group, 2013). - Die drei letztgenannten Beobachtungen sprechen dafür, dass wir mit unseren „störungsspezifischen“ Anschauungen und Intuitionen vorsichtig sein sollten. Es macht für die Betroffenen einen nicht geringen Unterschied, ob man ihnen als Fällen eines Typs von Störung oder als Individuen begegnet. Würden wir den Vorsatz unseres Fachs, sich um deskriptive Angemessenheit zu bemühen, beherzigen, so würde das eingeübte nosologische Denken einem mehr personalisierten Zugang weichen – zum Wohle des Patienten.
II. Systemkonfrontative Kritik der Anwendung des medizinischen Modells auf die Klassifikation psychopathologischer Phänomene
„For man is social in another sense than the bee and ant, since his activities are encompassed in an environment that is culturally transmitted, so that what man does and how he acts, is determined not by organic structure and physical heredity alone but be the influence of cultural heredity, embedded in traditions, institutions, customs and the purposes and beliefs they both carry and inspire.“
John Dewey[xv]
Die etablierte neuropsychiatrische Forschung orientiert sich an einem Modell des Geistes, dass aus der Sicht jüngerer Bemühungen, die relevanten Zusammenhänge rational zu rekonstruieren, zunehmend unplausibel erscheint. Das Gehirn arbeitet – platt gesagt - nicht wie eine Drüse, die aufgrund ihrer intrinsischen Eigenschaften den Geist - einem Hormon gleich - sezerniert. Das Bündel dynamischer kognitiver Prozesse, die Kognitionswissenschaftler für die adaptiven Leistungen des menschlichen Geistes verantwortlich machen, ist nur zu verstehen, wenn „außerzerebrale“ Bedingungen in Betracht gezogen werden. Zu diesen zählen der gesamte Organismus, der den Geist im Zusammenspiel mit anderen Organsystemen verkörpert, die gegebene Situation bzw. die Ausschnitte der Umwelt, die den Wahrnehmungs-Handlungsschleifen als Widerlager bzw. Informationsquelle dienen und damit den Geist einbetten und ausdehnen, und schließlich die Beziehungen zu den Mitmenschen, die wesentliche „Instrumente des Geistes“ durch soziales Lernen vermitteln und die die Möglichkeit der sozialen Distribution kognitiver Prozesse verdeutlichen.[xvi] Neben dieser räumlich ausgreifenden, ökologisch einbettenden und Personen verbindenden Dimension kognitiver Prozesse steht deren bislang unterstellte Arbeitsweise infrage: Im Gehirn finden sich keine „sensorisch amodalen“, symbolisch strukturierten, mentalen Repräsentationen, die von symbolmanipulierenden kognitiven Prozessen verarbeitet werden. Genauso wenig existiert ein „cartesianisches Theater“, auf dessen Bühne sich ein Homunkulus die „intern gedoppelte“ Situation vergegenwärtigt und seine Entscheidungen trifft. Kognitive Leistungen erwachsen vielmehr aus dem direkten, „enaktiv“ genannten sensomotorischen Engagement des Organismus in seiner Umwelt. Insofern sind kognitive Prozesse nichts anderes als vielfach eingebettete und multimodal verschränkte, sensomotorische Prozesse (Stewart et al., 2010). In den theoretischen Neurowissenschaften gewinnt das aus diesen Überlegungen abgeleitete Modell des „predictive coding“ an Boden: Der Organismus generiert Wahrnehmungs-Handlungs-Schleifen, die die nächste Wahrnehmung vorhersagen sollen. Je geringer die Abweichung zwischen Erwartung und Wahrnehmung ist, desto geringer ist die „freie Energie“, die das System zu minimieren versucht (Clark, 2016; Friston, 2010; Fuster, 2013; Hohwy, 2013). - Wie dem im Einzelnen auch sein mag: All diese konzeptuellen Neuerungen stellen das medizinischen Modell sowie die an diesem orientierte neuro-psychiatrische Forschung infrage. Ich werde im Folgenden zwei Punkte betonen – die soziale Programmierung des menschlichen Verhaltensrepertoires und die irreduzible Normativität der Erschließung des menschlichen Geistes –, die mir unabweisbar erscheinen und die zugleich verdeutlichen, warum die angestrebte Passung von biologischem Pathotyp und lebensweltlichem Phänotyp nicht gelingt.
Das Gehirn als Sozialorgan
„(…), cultural evolution is the engine of cognitive evolution. (…) culture is not something added to accounts of cognition - culture is what makes human cognition what it is.”
Nancy J. Nersessian[xvii]
Im Zentrum diverser kritischer Einlassungen der jüngeren Kognitionsforschung steht die Grundidee, die sich in jedem einführenden Psychologielehrbuch findet: Das Gehirn ist der zentrale Prozessor, der Information sensibel-sensorisch aufnimmt, diese verarbeitet und bedarfsgerechte motorische Aktivität generiert. Auch wenn aus guten empirischen Gründen nicht zu bestreiten ist, dass das Gehirn eine konstitutive Rolle bei der Implementierung psychischer Phänomene spielt: das Gehirn ist offenkundig kein autochthon arbeitendes, eine „intrinsische Funktionslogik“ exekutierendes Organ. Seine so genannten „höheren kognitiven Leistungen“ werden nicht durch eine präformierte, speziestypische „kognitive Architektur“, sondern durch die lebenslange Auseinandersetzung und Anpassung an die Umwelt bestimmt. Insofern unterscheidet sich das Nervensystem hinsichtlich der Struktur-Funktions-Beziehungen, die es implementiert, deutlich von den meisten anderen Organen. Viele seiner Funktionen sind weniger durch strukturell präformierte, biologische Instrumente, als vielmehr durch erworbene kulturelle Instrumente des Geistes bestimmt.
Sehr deutlich machen dies die Fähigkeiten, mittels deren wir unser soziales Leben bestreiten: Wir sprechen eine Sprache, halten uns an Regeln und Normen, nutzen eine Vielzahl kulturell definierter Fertigkeiten und finden uns dank eines weitreichenden und differenzierten Weltwissens in unserer Lebenswelt zurecht – alles Fähigkeiten, die durch die kollektive soziale Praxis definiert sind und mit der Hilfe kompetenter Vertreter dieser Praxis eingeübt werden müssen. Das Nervensystem erfüllt seine Rolle als „Informationsverarbeitungs- bzw. Steuerungsorgan“ insofern es uns ermöglicht, unsere jeweilige Kultur zu emulieren.[xviii] Wir lernen so wahrzunehmen, zu erkennen, zu benennen, zu fühlen und zu denken, wie man dies tut. Ich bestreite nicht, dass der Erwerb dieser normativ definierten Handlungsmuster durch die Struktur bzw. Organisation des Nervensystems in seinen Möglichkeiten begrenzt wird. Doch dieser - biologisch gesehen - triviale Umstand sollte einen nicht übersehen lassen, was her zur Debatte steht: Wird unser Geist durch die Funktionsweisen des Gehirns, d. h. eine „organbestimmte Psychologie“ bestimmt, wie viele immer noch meinen? Oder wird unser Geist durch die normativen Standards sozialer Praxis, d. h. durch die lokale Kultur, organisiert? Ist unsere Kultur nur ein „Programm“ unter vielen möglichen, die alle auf dem Computer „Gehirn“ zum Laufen gebracht werden können? Oder ist Kultur das Medium, in dem Menschen aufwachsen müssen, um überhaupt einen kulturgemäßen Geist entwickeln zu können? Mit Tomasello, Nersessian und anderen ist meine Antwort auf diese Fragen klar: Kultur ist keine Ergänzung autochthoner, von präformierten neuronalen Mechanismen implementierten kognitiver Strukturen; Kultur ist vielmehr das, was die Ausbildung und Formung kognitiver Prozesse bestimmt. Der menschliche Geist entwickelte sich ontogenetisch zum Vehikel einer einheitlichen kulturellen Praxis. Die kulturelle Herrichtung des Gehirn-Geist-Verhaltens-Zusammenhangs ist allein schon deshalb nicht zu übersehen, weil sie unserer Spezies einen dramatischen Vorteil verschafft: Wir leben als akkulturierte Individuen in einer gemeinsamen und geteilten Welt, weil wir unsere Umwelt gleichermaßen „repräsentieren“. Dank dieser kulturell garantierten Intersubjektivität ist es uns möglich, in einer (phylogenetisch) bis dato unbekannten Effektivität zu kommunizieren und unsere arbeitsteiligen Aktivitäten in einer reichhaltigen Lebenswelt zu koordinieren (Mercier & Sperber, 2010; Tomasello, 2014).
Wer glaubt, dass dieser „psychologische Kommunitarismus“ die konstitutive biologische Dimension des menschlichen Lebens geringschätzt oder gar ignoriert, der irrt. Er steht uneingeschränkt zu einem naturalistischen Verständnis unserer mentalen Kompetenzen und Aktivitäten, die vom „Seelenorgan“ auf mehrfach eingebettete Weise verkörpert werden: Es gibt keine immateriellen oder nicht-natürlichen Einflussgrößen, die in die zyklischen, auf verschiedenen Ebenen beschreibbaren Wechselwirkungen zwischen Organismus und Umwelt intervenieren. Ganz gleich ob wir Moleküle, Zellen, Gewebe, Organe, kognitive Funktionszustände, Individuen, soziale Dyaden, Familien, Gruppen oder ganze Gesellschaften in den Blick nehmen: die Wechselwirkungen zwischen diesen Ebenen sind stets bi-direktionaler, sowohl bottom-up als auch top-down erfolgender Art. Falls es in den letzten Jahren noch eines überzeugenden Belegs für diese Einsicht bedurft hätte, so haben diesen die „social genomics“ (Cole, 2009; Conley & Fletcher, 2017) schlüssig geliefert. Heute ist auch beim Menschen nachweisbar, dass soziale Bedingungen und Prozesse die Genexpression beeinflussen. Folglich verbinden sich in der Auseinandersetzung des Organismus mit seiner Umwelt die „tiefste“ Ebene intrazellulärer Prozesse mit der „höchsten“ Ebene sozialer Viele-Personen-Prozesse.
Aus der Perspektive der natürlichen Evolution ist all dies plausibel: Der Homo sapiens sapiens ist eine hypersoziale, d. h. ständig kommunizierende und sich in Gruppen reproduzierende und überlebende Spezies, deren „evolutionäres Erfolgsrezept“ in der enormen Plastizität ihres Verhaltens besteht. Allein die riesige Asymmetrie zwischen einem speziesdefinierenden genetischen Input von rund 20.000 proteinkodierenden Genen und einem phänotypischen Output von über 5000 unterschiedlichen, in alle denkbaren Richtungen ausdifferenzierten menschlichen Kulturen zeigt: menschliches Verhalten ist maßgeblich kulturell programmiert und kodiert; anders ist seine Vielgestaltigkeit nicht zu erklären.
Versuche, die variable, für besagte Vielfalt verantwortliche kulturelle Evolution zu rekonstruieren, beschreiben Feed-Forward-Schleifen, die die Entwicklung der folgenden Parameter vorantreiben: erstens, dem „kognitiven Kapital“ einer Kultur, d. h. der Sprache, Normensysteme, Technologien, Artefakte, Mythologien etc., die für eine lokale Form der sozialen Praxis kennzeichnend sind, zweitens, die dank des kulturellen Kapitals verbesserten Lebens- und Reproduktionsbedingungen, die durch stabile Bevölkerungsentwicklung, stabile Lebensformen und sozialen Frieden gekennzeichnet sind, und drittens einer immer effektiver werdenden Pädagogik, die eine zuverlässige Übertragung des kognitiven Kapitals auf die nächste Generation sicher stellt (Sterelny, 2012). Ohne die letztgenannte „Programmierung“ des Verhaltens der Nachkommenschaft, die Kim Sterelny (2003) treffend als „downstream epistemic engineering“ bezeichnet hat, wäre diese Form der Evolution nicht möglich.
Denn unsere kulturelle Evolution stellt die herkömmlichen Bedingungen auf den Kopf: Nicht wir passen uns an eine gegebene ökologische Nische an bzw. werden selektiert, wenn uns dies nicht gelingt. Nein, wir konstruieren unsere ökologische Nische auf eine Weise, die den Selektionsdruck der „Natur“ nahezu eliminiert. Das für kulturelle Evolution maßgebliche Prinzip der Nischenkonstruktion (Odling-Smee et al., 2003) beinhaltet nicht nur die äußeren Aspekte der Lebenswelt – von temperierten Behausungen bis zum Notarztwagen; es umfasst ebenso die Anpassung an „kognitive Nischen“, d. h. den Erwerb von Kulturtechniken, Normensystemen und Fertigkeiten aller Art, die Voraussetzung für die Teilhabe am Leben der Gemeinschaft ist. Somit ist die entscheidende konzeptuelle Nabe der Feed-Forward-Schleifen kultureller Evolution stets dieselbe: die ontogenetische Plastizität menschlichen Verhaltens, einer Disposition, die ohne Frage von der Plastizität des sich lebenslang entwickelnden Nervensystems abhängt.
Wie sehr unser Leben von der sozialen Programmierung des Verhaltens abhängt, zeigt der Umstand, dass unser Navigieren im sozialen Raum maßgeblich durch soziale bzw. institutionelle Tatsachen bestimmt wird. Doch was sind soziale Tatsachen wie Gerechtigkeit, Menschenrechte, die Ehe, ein Versprechen oder unsere Währung, der Euro, – ontologisch gesehen? Es handelt sich um Tatsachen, die einzig und allein deshalb existieren, weil wir – die Mitglieder einer relevanten sozialen Gruppe - an ihre Existenz glauben (Searle, 1997). Ohne diese kollektive Wir-Intentionalität, der zufolge wir die genannten Entitäten als real begreifen und entsprechend handhaben, gäbe es sie nicht bzw. hätten diese keinerlei Wirkmächtigkeit. Doch wie kann es sein, dass interpersoneller Austausch, durch den wir unsere Wir-Intentionalität organisieren, unser Handeln derart nachhaltig beeinflusst, ohne dass die konstitutiven Wechselwirkungen in einem Gehirn allein zu finden sind? Offenkundig besteht ein Zusammenhang zwischen der kulturellen Formbarkeit des Verhaltensrepertoires und einer großen Sensibilität gegenüber sozialen Signalen und Erwartungen. Wir sind nicht nur als Neugeborene „erfahrungshungrig“, wie die Entwicklungspsychologen sagen; wir bleiben dies ein ganzes Leben lang. Unser Geist entwickelt sich aus der durch konkrete Personen vermittelten Interaktion zwischen Kultur und Organismus. Es handelt sich um eine soziale Ko-Konstruktion, deren Funktionsweisen bislang allenfalls beschreibbar, aber kaum zu erklären sind.
Folgt man diesen, hier grob skizzierten Überlegungen, so hat dies Auswirkungen auf die zentrale Frage dieses Aufsatzes: Der Versuch, die biologische Signatur klinisch definierter Störungsmuster im Sinne des medizinischen Modells von Krankheit zu bestimmen, basiert auf Annahmen, die sich als grundfalsch erweisen könnten. Denn das auf die Identifikation von pathomechanischen Zusammenhängen zielende medizinische Modell von Krankheit verfügt nicht über die konzeptuellen Ressourcen, um die Kontingenz und Kontextabhängigkeit eines sich dynamisch selbst organisierenden Organs zu modellieren. Im Falle der Leber oder der Lunge sind diese Art von Wechselwirkungen nicht so ausgeprägt, dass sie die Aufklärung der organspezifischen Struktur-Funktionsbeziehungen verhindert hätten; im Falle der zentralnervösen Implementierung psychischer Funktionen und ihrer Störungen scheint dies jedoch ganz anders zu sein. Einige Anmerkungen zur Konstitution des Psychischen mögen diesen Verdacht unterstreichen.
Ist der menschliche Geist im Kopf? Nein, die kognitiven Prozesse, die für intelligentes Handeln verantwortlich gemacht werden, reichen über die Grenzen des Individuums hinaus.[xix] Deutlich wird dies am Beispiel einfacher, auf Umweltsituationen bzw. deren „Affordanz-Struktur“ (Gibson, 1986) bezogene Handlungen: Der Organismus generiert raumzeitlich abgestimmte Wahrnehmungs-Handlungs-Schleifen, die den relevanten Ausschnitt der Umwelt einschließen. Betrachtet man nur, was innerhalb der Körpergrenzen des Organismus während des Handelns geschieht, so bliebe die Handlung unverständlich, weil der relevante Umweltbezug nicht noch einmal extra repräsentiert wird. Es gibt, wie schon gesagt, kein „cartesianisches“ Bewusstseinstheater, in dem sich der „kleine Steuermann“ im Kopf die Gesamtsituation handlungsplanend einspielt.
Störungen oder Entwicklungsdefizite? Die individuellen mentalen Fähigkeiten hängen maßgeblich von der sozialen Lerngeschichte ab. Folglich finden sich erhebliche interindividuelle Unterschiede. Das Sprichwort, „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“, kann im Falle sozialen Lernens für bare Münze genommen werden. In der Tat weisen viele psychisch Kranke markante Kompetenzdefizite auf, die auf ungünstige soziale Entwicklungsbedingungen zurück zu führen sind (Turner & Brown, 2010). Insofern diese Defizite zum „gestörtes Verhalten“ beitragen, etwa weil psychosoziale Ressourcen fehlen, stellt sich die Frage, warum Fehlentwicklungen und Entwicklungsdefizite keine relevante Rolle bei der Definition psychischer Störungen spielen.
Im Anschluss an einige Überlegungen zum Explanans-Problem halte ich folgende zwei Überlegungen zu dieser Frage für erwähnenswert:
(i) Neuroplastizität – als notwendige Bedingung sozialen Lernens – ist ein weites Feld. Neben dem anerkannten „konnektionistischen“ Prinzip der sogenannten Hebb’schen Regel – „neurons that fire together wire together“ –, spielen weniger strukturgebundene Formen der Neuroplastizität womöglich eine wichtige Rolle. Vielleicht bedarf die Fähigkeit, selbst organisierte, neue, temporäre Netzwerke zu bilden, kreative Koalitionen von Netzwerken herzustellen oder alte Netzwerke für neue Aufgaben zu rekrutieren („neural reuse“), günstige Sozialisationsbedingungen – etwa ein angstfreies, spielerisches Ausprobieren von neuen Optionen? Wenn dem so wäre, dann besteht die Möglichkeit, dass ungünstige Sozialisationsbedingungen nicht nur die unmittelbare Entwicklung beschränken, sondern darüber hinaus die Voraussetzungen für die Entwicklung meta-kognitiver Fähigkeiten behindern. Um es alltagspsychologisch zu sagen: Wer nie gelernt hat, sich selbst zu trösten, zu motivieren und aus eigener Initiative aus Fehlern zu lernen, dem wird es schwerfallen, sich in belastenden Situationen eines Besseren zu besinnen.
(ii) Eine verwandte, zweite Implikation der Neuroplastizität betrifft das generell erhöhte Psychopathologierisiko unserer Spezies: Je sensibler und nachhaltiger die Nachkommenschaft auf pädagogische Einflüsse reagiert, insbesondere in frühen Phasen der Ontogenese, desto kontingenter dürfte die Entwicklungsergebnisse ausfallen. Soziales Lernen hängt schließlich auch von den Lehrern ab. Je prägbarer menschliches Verhalten ist, desto leichter wird es Opfer von Fehlprägungen. Dies erklärt, warum wichtige Bedingungen psychischer Störungen häufig transgenerational tradiert werden.
Situations-, Bedeutungs- und Gehirndynamik. Handeln in Situationen entfaltet sich kontingent und dynamisch. Nehmen wir als Beispiel ein Gespräch: Die Gesprächspartner nehmen schon bald auf Vorstellungen Bezug, die sie erst kurz zuvor aufgrund der Interaktion mit dem anderen entwickelt haben. Infolge wechselseitiger Einwände, Entgegnungen und Begründungen entsteht womöglich eine (implizite) Synchronie zwischen den Gesprächspartnern bzw. ein explizites gemeinsames Narrativ, das sich weder linear auf stabile Dispositionen noch auf definierte (experimentell kontrollierbare) Ausgangsbedingungen beziehen lässt. Wir haben heute kaum eine Vorstellung, wie „interagierende Gehirne“ diese Art komplexen, gemeinsamen Bedeutungserschaffens und Handelns in Szene setzen (Enfield, 2013). Dem entsprechend dürfte es sich als schwierig erweisen, die Gehirnmuster scheiternder Interaktionen, die bei psychopathologischen Beurteilungen eine große Rolle spielen, zu typisieren.
Der endlose psychosoziale Looping-Effekt. Ian Hackings (1995) Konzept des „looping effects“ verallgemeinert den Befund des Gesprächsbeispiels: Die soziale Praxis der Klassifikation, so Hackings Analyse, beeinflusst das Verhalten der Klassifizierten. Das Beispiel sich emanzipierender Minoritäten, die sich auf einmal als „Schwule“ oder „Nigger“ selbst klassifizieren, mag dies verdeutlichen. Dahinter steckt jedoch etwas Grundlegenderes: der ständige Austausch von Vorstellungen, Normen und Handlungsmustern zwischen den Individuen. Wir identifizieren uns, assimilieren Rede- und Verhaltensweisen, bilden Netzwerke „Gleichgesinnter“, zumeist ohne uns dessen bewusst zu sein. Dabei kommt dem Erwerb bzw. der kompetenten Nutzung „kultureller Werkzeuge“ eine große Bedeutung zu. Wenn ich Merleau-Ponty studiere oder in meiner Therapie eine Vorstellung über meine interpersonellen Reaktionsmuster entwickle, dann können diese Lernschritte mein Verhalten ändern, weil ich mich (i. d. R. mit der Hilfe anderer) selbst „re-programmiere“. Ich kann darüber hinaus ein Bewusstsein für diese Vorgänge entwickeln, in dem ich mir meine eigenen mentalen Zustände „meta-kognitiv“ vergegenwärtige. Wir leben in einer Zeit, in der die Anforderung an derartige Mentalisierungsfähigkeiten so groß wie nie sind. Insofern hängt sozialer Erfolg auch davon ab, ob es gelingt, der Engführung der eigenen Lebensgeschichte durch eine „Re-Programmierung“ des „zentralen Prozessors“ zu entgehen.
Nun gut, mag man einwenden: Wenn der menschliche Geist durch derart kontingent, dynamisch und mehrfach eingebettet operierende neuronale Prozesse implementiert wird, dann heißt dies noch nicht viel in Bezug auf psychische Störungen. Letztere sind ja gerade dadurch gekennzeichnet, dass die „kreative“ bzw. „chaotische Dynamik“ gesunder psychischer Prozesse nicht realisiert werden kann. Offensichtlich sind Hindernisse am Werk – seien es Stoffwechselstörungen, zerebrale Strukturanomalien, subtile „computationale“ Fehlfunktionen neuronaler Netzwerke oder sich immer wieder ausbildende „pathogene Attraktoren“ -, die für die Rigidität des Verhaltens – dem Kardinalmerkmal aller Psychopathologie – verantwortlich sind. Mag sein. Doch um die erwähnten Hindernisse im Sinne einer bio-medizinisch begründeten Klassifikation psychischer Störungen nutzen zu können, müssen diese Hindernisse eine hinreichende Typizität bzw. Eigengesetzlichkeit aufweisen. Ein Grund, warum es bislang nicht gelungen ist, typische Biomarker zu identifizieren, könnte darin bestehen, dass die Bedingungen psychischer Gestörtheit durch dieselbe Kontingenz und Dynamik gekennzeichnet sind, wie die Bedingungen normalen Verhaltens.
Alltagspsychologie und Alltagspsychopathologie
„Thinking would seem to be a completely solitary activity. (…) It is a solitary activity all right, but on an instrument made by others for that general purpose, after years of playing with and learning from other practitioners, in a musical genre with a rich history of legendary riffs, for an imagined audience of jazz aficionados. Human thinking is individual improvisation in a sociocultural matrix.”
Michael Tomasello[xx]
Die bislang thematisierte Ignoranz unseres Fachs in Bezug auf valide Störungsdefinitionen, störungsspezifische, gehirnbasierte Ätiopathologien und eine adäquate Konzeption des menschlichen Geistes hindert uns in der Praxis nicht daran, durchaus heilkräftig zu Werke zu gehen. Die dazu erforderlichen Fähigkeiten verdanken sich nicht etwa dem Studium der klinischen Neurowissenschaften, sondern dem stillschweigenden Erwerb der „psychologischen Praxis“ unserer Kultur bzw. deren Verfeinerung im Zuge der klinischen Ausbildung und der Berufstätigkeit. Wir verstehen uns mit unseren Patienten nicht nur, weil wir dieselbe Sprache sprechen; wir verstehen einander - wichtiger noch - weil wir dieselbe „Psychologie“ anwenden. Diese Psychologie, unsere Alltagspsychologie, unterscheidet Fakultäten wie Denken, Fühlen oder Gedächtnis und erklärt Handlungen mit „guten“ Gründen. Sie nutzt rund 200 psychologische Verben, die sich mit wohlgeformten Aussagesätzen zu unendlich vielen verschiedenen „propositionalen Einstellungen“ verbinden lassen, um „psychologisierende“ Geschichten der unterschiedlichsten Art zu erzählen. Und sie umfasst ein implizites Regelwerk, das die kontexttypische Verwendung und damit das wechselseitige mentalistische Verständnis sicherstellt. Folglich können wir als kompetente Alltagspsychologen einschätzen und benennen, wie eine andere Person unter den-und-den Bedingungen fühlen, denken etc. dürfte. Denn wir alle erleben, fühlen, denken etc. auf eine kulturell präformierte Weise, insofern wir uns an Tomasellos oben zitierter Matrix „möglicher guter, vernünftiger und deshalb nachvollziehbarer Gründe“ orientieren.
Ich möchte die grundlegende Bedeutung dieser auf der Kenntnis und der Teilhabe an einer einheitlichen sozialen Praxis basierenden, psychologischen Intersubjektivität anhand eines Gedankenexperiments verdeutlichen: Stellen wir uns vor, wir könnten die „organismische“ (objektive, biologische) von der „personalistischen“ (intersubjektiven, sozialen) Dimension des Ein-menschliches-Individuum-Seins sauber trennen. Dieser Fiktion entsprechend könnten wir uns einem Patienten auf zweierlei, theoretisch wie praktisch grundverschiedene Weisen näheren, so als habe der Patient - einer Medaille gleich - zwei eindeutig unterscheidbare Seiten.
Betrachten wir zunächst die organismische Zugangsweise: Wir begreifen den Patienten als einen Organismus, dessen Funktionsstörungen es zu erkennen und zu beheben gilt. Zu diesem Zweck richtet sich unser Interesse auf die biologischen Mechanismen, die diesen Organismus konstituieren, insbesondere die neuronalen Mechanismen, die für die Generierung des problematischen Verhaltens verantwortlich sind. Stellen wir uns weiterhin vor, wir verfügen dabei über die Möglichkeiten einer zukünftigen klinischen Neurowissenschaft, die es uns erlaubt, das neuronale Geschehen umfänglich „online“ nachzuvollziehen und zugleich hinsichtlich seiner „computationalen Besonderheiten“ (auf dem Hintergrund langjähriger, kapazitativ unbegrenzter Big Data Analysen) zu beurteilen. Was würden wir über den psychologischen Zustand dieses Menschen sagen können, wenn nur seine Neurone „sprechen“?
Wechseln wir, ehe ich diese Frage weiterverfolge, auf die zweite Seite der Medaille – die interpersonelle Seite: Sie, die Psychiaterin, beginnen mit dem Patienten ein Gespräch, um dessen Beschwerden, deren Entwicklung und mögliche Zusammenhänge zwischen inneren und äußeren Bedingungen und Beschwerden etc. in Erfahrung zu bringen. Dank des gemeinsamen kulturellen Hintergrunds und Ihrer interpersonellen Kompetenz erfassen Sie schnell, „wo der Schuh drückt“, „wie“ und möglicherweise auch „warum“ dieser drückt. Denn Sie können dem Rapport des Patienten nicht nur explizite Angaben über Art, Ausprägung und Wechselhaftigkeit von Symptomen und deren mutmaßliche situative und lebensgeschichtliche Bedingtheit entnehmen, sondern nicht minder wichtige implizite Eigenschaften und Zusammenhänge erkennen. Zu letzteren zählen z. B. die Art, wie der Patient sich in Szene setzt und sich behauptet, etwaige Inkohärenzen in seinem Bericht, die auf Selbstentfremdung oder Selbsttäuschung schließen lassen, Repertoire und Ausmaß der psychologischen und sozialen Fähigkeiten und Ressourcen, die dem Patienten zu Gebote stehen, sowie der Stil bzw. die Komplexität und Elaboriertheit seines (Selbst-)Narrativs und vieles mehr.
Was lässt sich über die Vor- und Nachteile der beiden grundverschiedenen Zugangsweisen sagen? Was den organismischen Ansatz in Bezug auf die Details und die Präzision der transparent gemachten kausalen Prozesse auszeichnet, das fehlt ihm, wenn es um deren Beurteilung und Deutung geht. Dank des perfekten „organismischen Durchblicks“ könnte man im Prinzip sehr gezielt intervenieren, wüsste dabei aber nicht, was eigentlich geändert werden soll. (Zur Erinnerung: ohne Bezug zur konkreten Situation und ohne Verständnis der bedeutungsstiftenden sozialen Praxis sind die detektierten Aktivitätsmuster im Nervensystem des Patienten – aus lebensweltlicher Sicht – bedeutungslos.) Beim interpersonellen Zugang verhält es sich umgekehrt: Wir wüssten nur sehr wenig über die konstitutiven organismischen Prozesse. Unsere Möglichkeiten, diese zu beurteilen, beschränken sich auf klinisch informierte Fragen, wobei der Nutzen der Antworten stark von den „enterozeptiven“ Fähigkeiten bzw. der „Klarsichtigkeit“ des Patienten abhinge. Dafür können wir aus personalistischer Perspektive sehr genau sagen, was im Verhalten des Patienten auffällig erscheint bzw. was ihm „fehlt“, weil wir viel Erfahrung damit haben, was man in sozialen Alltagsinteraktionen erwarten kann. Deutlich wird dies, wenn man sich den Begriff „Kompetenz“ vor Augen führt: Wie kompetent jemand in Bezug auf die Ausübung einer „psychologischen Tätigkeit“ ist, lässt sich nur beurteilen, wenn man einen Standard „normalen Verhaltens“ zugrunde legt. Und dieser Standard ist immer ein personalistischer Standard, weil es um die Verhaltensnormen einer sozialen Gemeinschaft geht.
Darüber hinaus hat der interpersonelle Zugang zum Patienten zwei konkurrenzlose Vorteile, weil dieser an das Ein-Selbst-Sein des Patienten anknüpft: Der mitmenschliche, dialogische Zugang zum Patienten fördert die „therapeutische Beziehung“ und damit Selbstöffnung sowie Lern- und Veränderungsbereitschaft. Zugleich ermöglicht es der interpersonelle Zugang, personalistische Fallkonzeption des „irregeleiteten seelischen Geschehens“ zu formulieren. Die Symptome und Probleme kommen auf eine Weise zur Sprache, die der Patient verstehen kann. Das (idealerweise) kooperativ formulierte Störungsmodell setzt dabei an der aktuellen Lebenssituation, den Konflikten und Ambitionen, der Lebensgeschichte und der „Identitätspolitik“ des Patienten auf eine Weise an, die diesen zur aktiven Problembewältigung motivieren soll. Kurz: nur der interpersonelle Zugang ist in der Lage, den Patienten „da abzuholen, wo er - psychologisch gesehen - steht“.
Wie sollen wir nun die Frage, welche der beiden Seiten der Medaille die erkenntnistheoretisch wichtigere bzw. die klinisch hilfreichere ist, beantworten? Der aufgrund seines organismischen Verständnisses kognitiver Prozesse unverdächtige Enaktivismus bietet ein Denkbild an, mit dessen Hilfe sich diese Frage ökumenisch beantworten lässt: das Hinein- und Hinaus-Zoomen unseres interpretierenden bzw. erkennenden Blicks.[xxi] Wenn wir die reduzierte BDNF-Expression im Hippocampus „depressiver“ Mäuse untersuchen, dann müssen wir methodisch kontrolliert und technologisch augmentiert in das intrazelluläre Geschehen „hineinzoomen“. Wenn wir hingegen verstehen wollen, warum Frau S. so unter ihrem Partnerschaftskonflikt leidet (Einzelfall), oder ob manche „Persönlichkeitsstörungen“ wegen übersteigerter „epistemischer Vigilanz“ bzw. zu geringen „epistemischen Vertrauens“ (Sperber et al., 2010) eine ungünstige Entwicklung nehmen (psychologische Regularität), dann müssen über die jeweiligen Individuen „hinauszoomen“ und Bedeutungen – private wie öffentliche -, Normen und die Folgen von Beziehungserfahrungen in den Blick nehmen. Diesem Bild zufolge hängt der wissenschaftliche Zugang von der Art der empirischen Domäne ab. Einerseits sind empirische Domänen durch unterschiedliche Phänomene, Konstitutionsbedingungen, Kausalprozesse etc. charakterisiert, anderseits handelt es sich um „Abstraktionsebenen“, die dank unterschiedlicher sozialer und epistemischer Praktiken „hergestellt“ und bearbeitet werden (Gershenson, 2001). Neuroanatomie und –physiologie verfahren nun mal anders als Labor- oder Alltagspsychologie. Doch wie steht es um wissenschaftliche Validität? Als wie objektiv bzw. praxisunabhängig oder wie intersubjektiv-relativ bzw. praxisabhängig sind die verschiedenen empirischen Domänen anzusehen? Mein Begriff des „Herrichtens“ von Untersuchungsgegenständen, Befunden, Daten etc. betont den unerlässlichen Einfluss epistemischer Praxis, ohne die Existenz einer praxisunabhängigen Realität per se zu bezweifeln. Insofern schließt der Relativismus der Praxis, den Objektivismus der „natural ontological attitude“ (Fine, 1986) nicht aus. Wichtig ist es m. E. dabei nicht zu übersehen, dass alle wissenschaftliche Praxis von alltäglichen, auf anthropomorphe Weise gestellten Fragen ihren Ausgang genommen hat. Es mag Naturwissenschaften geben, die sich bis heute derart erfolgreich von der lebensweltlichen Scholle abgestoßen haben, dass ihre Fragestellungen von unserem intuitiven Erleben und Denken unabhängig geworden sind. Im Falle der Fragen und Gegenstände, um die es in diesem Aufsatz geht, ist dies sicher nicht der Fall: Man kann den Explananda unseres Fachs ihre alltagspsychologische Herkunft unschwer ansehen. Ohne lebensweltliches Vorverständnis dessen, was mit „psychisch“, mit „gestört“, mit „Heilen“ oder mit „Denken“ gemeint ist, kämen unsere Bemühungen nicht vom Fleck. Insofern sollte klar sein, dass mein Gedankenexperiment vollkommen unrealistisch ist: Die beiden Seiten der Medaille Mensch sind nicht zu trennen, weil die wesentlichen gegenstandskonstituierenden Bestimmungen und Fragestellungen von der personalistischen Seite stammen. Das Verhalten des menschlichen Organismus ist immer schon „psychisch“, weil dieses Verhalten ein akkulturiertes Verhalten ist. Um eine alte Melodie von Charles Taylor (1971) zu variieren: wir sind biologische Organismen, die sich nicht nur qua kollektivem Selbstverständnis als Personen begreifen; wir sind auch Personen, die sich zum Ziel gesetzt haben, die organismischen Bedingungen ihres Personseins wissenschaftlich zu untersuchen.
Der Siegeszug der modernen Naturwissenschaften reicht heute weit in das Feld des Psychosozialen hinein – und sei es auch nur als Ideologie. Aus Entdeckungen, die sich ingeniösen, hoch arbeitsteiligen Forschungsleistungen verdanken, werden schnell „unbezweifelbare Realitäten“. Dies führt zu Programmatiken wie der der klinischen Neurowissenschaften auf dem Feld der Psychiatrie: „Objektive organismische Bedingungen sind maßgeblich für das Verhalten verantwortlich und sollten als solche untersucht werden.“ Geht das? Können wir - selbst mit Hilfe fiktiver, zukünftiger Technologien und Methoden - anhand des bloßen dekontextualisierten neuronalen Geschehens erkennen, wie der Patient tickt? Können wir beispielsweise feststellen, ob seine Überzeugungen wahnhaft sind, oder ob er seine Gefühle situationsadäquat zu regulieren vermag? Ohne das Medium der Sprache, ohne Kenntnis relevanter Normensysteme und ohne Einbettung in einen Erlebens- und Handlungskontext dürfte es m. E. nicht möglich sein, die Bedeutung der mentalen Zustände des Patienten zu verstehen. Insofern begeht die klinische Neurowissenschaft einer „Unterlassungstäuschung“: Sie orientiert sich an Wissensressourcen – dem alltagspsychologischen Vorverständnis –, die sie nicht explizit ausweist. Dies gelingt unbeanstandet, solange robuste verhaltensdeterminierende Zusammenhänge nachgewiesen werden können. Doch wie schon gesagt: Das akkulturierte Gehirn operiert als Vehikel der Kultur. Die Untersuchung des „nativen“ Vehikels – unabhängig von mentalen Inhalten und situativen Handlungsbezügen – hat sich bei der Erforschung grundlegender neurologischer Schäden als ausreichend erwiesen. Koma, Anfälle oder Paresen sind, was sie sind, unabhängig von Kontext und Interpretation, weil sie die „Autobahnen“ des Konnektoms bzw. homöostatische Basisfunktionen betreffen. Im Falle psychischer Störungen und Probleme reicht ein solcher Ansatz jedoch offensichtlich nicht aus.
Aber ist das nicht zu einseitig? Wer glaubt bzw. wer belegt, dass die alltagspsychologische, auf interpersonellen Beobachtungen basierende Modellierung der Störungsdynamik des Patienten valide ist? Was wenn es sich dabei um post hoc-Rationalisierungen im Lichte der normativen Alltagspsychologie bzw. dem kreativen Gebrauch der konzeptuellen Steckenpferde der Therapeutin handelt?
Es ist absolut legitim, auf dem Anspruch auf ein objektives Erfassen der Störungsbedingungen – nicht zuletzt zum Wohle des Patienten – zu bestehen. Auch zweifelt niemand daran, dass die Ergebnisse der interpersonellen Anwendung der Alltagspsychologie aus wissenschaftlicher, um das Erkennen von Regularitäten bemühter Sicht als „epistemisch schwach“ angesehen werden können – diese sind nun mal aufgrund kontingenter (und i. d. R. unkontrollierbarer) Randbedingungen, eines komplexen, dynamischen Bedingungsgefüges und unzuverlässiger Messprozesse schlecht replizierbar. Dabei sollte man aber das Entscheidende nicht vergessen: Psychische Störungen manifestieren sich qua definitione psychologisch. Doch was heißt „psychologisch“ unabhängig von unserem lebensweltlichen Verständnis? Gibt es psychologische Anomalien, die sich maßgeblich biologisch manifestieren und insofern von der sozialen Praxis unabhängig bestimmt werden können? So gut wie jeder kompetente Vertreter unserer Lebenswelt dürfte, wie ich, der Meinung sein, dass das bewusste subjektive Erleben ein unverzichtbares Wesensmerkmal des Psychischen ist. Ohne die Dimensionen des Erlebens der phänomenalen und/oder propositionalen Inhaltlichkeit und Intentionalität mentaler Zustände und Prozesse, würden wir das Störungsgeschehen nicht „psychisch“ nennen. Wenn dies so ist, dann fragt es sich, inwiefern ein strikt organismischer Zugang überhaupt geeignet sein kann, psychische Störungen zu erhellen. – Einige Anmerkungen zu Psychotherapie und Psychopathologie – zwei wesentlichen Elementen unseres Fachs - sollen diesen Punkt abschließend unterstreichen.
Psychotherapie
Psychotherapie ist eine institutionalisierte Form des Gesprächs, das sich den Seelennöten des Patienten widmet. Die Therapeutin lenkt dabei die Aufmerksamkeit des Patienten auf Zusammenhänge, die diesem bislang unverständlich waren, systematisch vermieden wurden oder hinsichtlich ihrer nachteiligen Konsequenzen unzureichend berücksichtigt wurden. Auf der Grundlage der oben erwähnten, qua Sozialisation erworbenen psychologischen Fertigkeiten können Therapeutin und Patient gemeinsam eine neues, das Selbst- und Problemverständnis des Patienten möglichst vertiefendes Bild von seiner aktuellen Situation und möglichen Handlungsoptionen zeichnen. Dabei geht es immer wieder um ähnliche Problemlagen – fehlende bzw. unterentwickelte Kompetenzen, Ambivalenzen und Konflikte der Motive, ursprünglich adaptive, mittlerweile aber maladaptive „Überlebensregeln“ und Haltungen, Selbsttäuschung und Selbstimmunisierung, ineffektive Kompensationsstrategien und wenig hilfreiche Identitätsbildungsprozesse. Diese und ähnliche Elemente individueller Fallkonzeptionen sind außerhalb der Sphäre sprachlicher und alltagspsychologischer Intersubjektivität unverständlich. Es handelt sich ohne Frage um Ko-Konstruktionen, die im interpersonellen Therapieprozess aus der wechselseitigen Anregung der Sprecher erwachsen.
Wie können wir ausschließen, dass es sich bei diesen individuellen Fallkonzeptionen nicht um Als-ob-Geschichten, ohne Bezug zum tatsächlich verhaltenswirksamen neuronalen Geschehen handelt? Ein Grund, der für eine „personenzentrierte Validität“ psychotherapeutischer Fallkonzeptionen spricht, besteht darin, dass diese Fallkonzeptionen Anlass für effektiv verhaltensändernder Therapiefortschritte sein können. Wie kann es sein, dass diskursiv vermittelte Einsichten, bewusste Strategieänderungen, der Erwerb von Fähigkeiten, die aktive Lösung von Konflikten oder auch äußere Ereignisse wie die Rückkehr des Partners, die psychische Situation des Patienten deutlich verbessern können? Nehmen wir das geradezu prototypische Beispiel der Entstehung depressiver Verstimmungen aufgrund von sozialen „Entrapment“-Situationen (Brown & Harris, 1978). Wenn eine depressive Patientin ihren, lange Jahre unauflösbaren Konflikt zwischen „Ich-muss-den-Kindern-zuliebe-weiter-mit-ihm-Zusammenbleiben“ und „Ich-will-mich-von-ihm-trennen“ im Zuge einer Therapie aufzulösen beginnt und sich ihre Depression bessert, dann dürfte der beschriebene Konflikt tatsächlich „depressiogen“ gewirkt haben. Soziale Prozesse – einschließlich psychotherapeutischer Gespräche – müssen die Genexpression und damit das Verhalten vieler Neurone in ständig variierenden Zellnetzwerke verändern, damit derlei möglich ist. Ähnliche Zusammenhänge lassen sich anhand der Funktionalität vieler psychischer Störungszustände verdeutlichen: Angst-, Zwangs- oder Essstörungen gehen nicht nur mit leidvollen Beeinträchtigungen einher. Die entsprechenden Störungsmuster spielen in der „Seelendynamik“ der Betroffenen zugleich eine alternativlose Rolle. Ihr Nutzen – etwa das „Einfrieren“ schwieriger Gefühle oder die Stabilisierung eines inkohärenten Selbst – kann durch nichts ersetzt werden, was dem Betroffenen verfügbar erscheint. Derartige, von Psychiatern und Psychotherapeuten jeden Tag beobachtete und strategisch genutzte Zusammenhänge sind zugleich verständlich und wirkmächtig. Beides ist erforderlich, um zu bewusstem Handeln zu motivieren bzw. Schritte in Richtung auf ein gedeihlicheres Selbstmanagement zu unternehmen. Insofern für die psychiatrische Praxis die Dimension interpersonellen Handelns unerlässlich ist und bleiben wird, sind wir folglich gezwungen, uns mit der sozialen Ko-Konstruktion des Psychischen als einem Artefakt unserer Kultur auseinanderzusetzen – und dies auf allen Ebenen: von der Genexpression bis zur Gesellschaft.
Psychopathologie
Die Psychopathologie ist bis heute das Grundlagenfach der Psychiatrie. (Nur eine, von mir hier systematisch bezweifelte Fundierung des Fachs in objektiven Gehirnstörungen könnte dies ändern.) Sie unterscheidet psychologische Fakultäten und definiert Symptome, wie Denkstörung, die Ausdruck einer Anomalie der Ausübung der Fakultät – in diesem Fall des Denkens – ist (Sims, 1988). Sowohl die Klassifikation der Fakultäten, als auch die (implizite) Definition der Gesundheits-Krankheits-Grenze sind eindeutig normativer Art. Fakultäten wie Denken, Fühlen, Gedächtnis etc. sind dabei Ausdruck des lebensweltlichen Vorverständnisses und nicht etwa das Ergebnis einer entwickelten Neuropsychologie. Dass dabei die Organisation des Nervensystems und die Unterscheidungen der Alltagspsychologie gelegentlich zusammenpassen – man denke z. B. an die Unterscheidung der „fünf Sinne“ -, tut diesem Befund keinen Abbruch. Schließlich dient die Alltagspsychologie dem Zweck, die Alltagserfordernisse und Bedürfnisbefriedigung des Individuums zu organisieren – was nur in hinreichender Übereinstimmung mit den organismischen Erfordernissen möglich ist. Kurz: unsere Psychopathologie ist nichts Anderes als raffinierte Alltagspsychopathologie.
Betrachten wir dazu die Beispiele der Wahnvorstellung und der formalen Denkstörung, zwei Kardinalsymptome der so genannten Schizophrenie. Wahnvorstellungen sind fixierte Überzeugungen, die sich nicht durch anderslautende Evidenz korrigieren lassen. Denkstörungen werden aus der Rede des Patienten erschlossen, weil der Patient willkürlich schließt oder sprunghaft das Thema wechselt. Lassen sich diese, in der DSM-5 ebenso explizierte Konzepte ohne die Kenntnis unserer normativen Standards „vernünftigen Denkens“ oder „kohärenter Rede“ angemessen verwenden? Ganz offensichtlich nicht, denn Denken und Sprechen dienen zuallererst der sozialen Teilhabe. Wir denken, um überzeugend zu reden, um im sozialen Umfeld zu bestehen (Sperber & Mercier, 2010). Um psychische Schwierigkeiten, die diese Teilhabe erschweren, zu erkennen, müssen wir folglich wissen, wie das soziale Miteinander vonstattengehen soll. Fazit: Die Schwierigkeiten, eine Passung zwischen Biotyp und Phänotyp zu realisieren, wird durch die Normativität einer sozialen Praxis sehr vieler Individuen insofern beeinflusst, als es den Phänotyp ohne diese Praxis nicht gäbe.
Schlussbemerkung
Gibt es psychische Störungen? Es gibt psychisch kranke Menschen, deren Symptomatik sich in verschiedenen psychologischen Dimensionen bestimmen lässt. Dabei finden sich durchaus Cluster mehr oder weniger zuverlässig gemeinsam auftretender Symptome, die wir interpersonell relativ reliabel anhand von Syndromdefinitionen identifizieren können. Was liegt dieser Ko-Variation von Symptomen zugrunde? Ist es eine gemeinsame Ursache, wie das medizinische Modell unterstellt? Oder handelt es sich um mehr oder weniger singuläre Formen der Pathogenese, die - klinisch - mehr oder weniger ähnlich in Erscheinung treten? Die Hoffnung, dass das medizinische Modell den Weg zum Erfolg weist, hat sich bislang nicht erfüllt – und dürfte sich, wenn meine Argumente in die richtige Richtung weisen, auch nicht erfüllen. Dies liegt im Wesentlichen daran, dass das medizinische Modell psychischer Störungen nicht auf die kausalen Gegebenheiten passt, die für diese Psychopathologien verantwortlich sind.
Zu erwähnen bleibt, dass dies natürlich nicht das Ende der Bemühungen um eine organismisch begründete Nosologie ist. Zum einen kommen „neuro-computationale“ Ansätze auf den Markt, denen es unbenommen sein wird, die Einsichten der „4 E-Ansätze“ – für „embodied“, „embedded“, „extended“ und „enactive“ sowie „socially distributed cognition“ – aufzugreifen (Redish & Gordon, 2016). Des Weiteren werden Netzwerk-Modelle sich wechselseitig generierender Symptome diskutiert. Erste Ergebnisse dieser Versuche sind durchaus vielversprechend (Borsboom, 2017). Auf jeden Fall teilen die letztgenannten beiden Ansätze die hier vertretene Skepsis gegenüber dem medizinischen Modell psychischer Störungen.
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Endnoten:
[i] Das Kapitel „neurokognitive Störungen“ nehme ich aus, weil es sich um neurologische und nicht um psychische Störungen handelt.
[ii] Wie quicklebendig das medizinische Modell ist, lässt sich unschwer anhand der Designs der meisten in hochrangigen Journals wie Molecular Psychiatry oder JAMA Psychiatry publizierten Originalarbeiten nachvollziehen.
[iii] 1998: 302.
[v] Wenn man bedenkt, wie hoch der Anteil an „nicht näher bezeichneten“ psychischen Störungen in genauen deskriptiven Untersuchungen ist, dann bekommt man eine Vorstellung, wie weit verbreitet diese „Gewalt“ ist. Fairburn et al (2007) z. B. ermittelten eine Quote von 60% „Nicht näher bezeichneter“-Essstörungen in einer Kohorte von 170 konsekutiv untersuchten Patienten eines Essstörungszentrums. Angesichts dieses drängenden Problems deskriptiver Unangemessenheit sind die Autoren der DSM-5 auf die Lösung verfallen, die Restkategorie „Nicht näher bezeichneter“-Störungen vollständig zu streichen – was aus bislang noch auflösbarer „Gewalt“ zukünftig unvermeidbare „Gewalt“ macht.
[vi] Kritische Beobachter der Situation, die überwiegend meine Skepsis gegenüber distinkten Typen psychischer Störungen teilen, sehen diese Krise als bereits eingetreten, auch wenn sie noch nicht ausgerufen worden ist (Poland & Tekin, 2017).
[vii] Gotlieb & Hammen (2014) enthalten interessante Kapitel zur Psychobiologie diverser depressiver Symptome.
[viii] Ein anonymer Gutachter hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der Trend zur personalisierten Medizin auch somatische Erkrankungen betrifft. Insofern wird das medizinische Modell von Krankheit auch auf diesem Feld zunehmend unter Druck geraten.
[ix] Eine Ansicht, die ganz klar vom RdOC-Ansatz vertreten wird (Cuthbert & Insel, 2013).
[x] Es war der aus der Ukraine stammende, amerikanische Mathematiker und Physiker George Gamow, der 1954 diese Idee bzw. diesen Begriff im Zusammenhang mit der Entschlüsselung des genetischen Kodes einbrachte, bei der er eine wichtige Rolle spielte (Crick, 1955).
[xi] Edelman und Gally (2001) unterscheiden in ihrem einflussreichen Artikel 22 Ebenen, auf denen degenerierte Wechselwirkungen bekannt sind – ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
[xii] Mehr als 2/3 der rund 86.000.000.000 Nervenzellen des erwachsenen Gehirns finden sich normalerweise im Kleinhirn.
[xiii] In Gershensons „Sandwich“-Modell alternierender Ebenen erweist sich das Verhältnis zwischen Explanandum und Explanans als austauschbar: Was eben erklärend eingesetzt wurde, das Explanans, kann jetzt als zu erklärender Gegenstand – als Explanandum - bestimmt werden und so fort.
[xiv] Selbst ausgesprochene „Modularisten“ unter den Netzwerktheoretikern räumen ein, dass wir die genuine Netzwerkorganisation des Gehirns noch nicht kennen (Sporns & Betzel, 2016).
[xvi] Einen guten Überblick über die entsprechenden Überlegungen finden sich u. a. in Robins & Aydede (2009), Stephan & Walter (2013) oder Kiverstein (2017).
[xviii] Mit „emulieren“, abgeleitet vom lateinischen Verb aemulari, was nachahmen bedeutet, meine ich den situationsangemessenen Einsatz kulturell normierter Verhaltensmuster.
[xix] Locus classicus dieser These ist Clark & Chalmers (1998)
[xx] 2014: 1.
[xxi] Vgl. de Haan, S.. (forthcoming). Enactive Psychiatry. Cambridge University Press.
Autoreninformation:
Markus R. Pawelzik
EOS-Klinik für Psychotherapie
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