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Deutsch

Schärfer als die Realität? – Was wir von psychischen Erkrankungen und virtuellen Räumen über unser Wirklichkeitserleben lernen können


[„More real“ than reality? – Learning about reality perception from psychiatric disorders and virtual reality]

Swantje Notzon

[Journal für Philosophie & Psychiatrie, August 2016, Original paper]

Abstract

Das Erleben der Wirklichkeit kann bei psychischen Erkrankungen und bei Gesunden verändert sein. Dieser Artikel schlägt zur Beschreibung solcher Veränderungen ein Spektrum des Wirklichkeitserlebens von „vermehrt/besonders wirklich“ bis „vermindert/unwirklich“ vor. Dabei wird diese Wirklichkeitsnähe oder –ferne von der Wirklichkeitsähnlichkeit, also der Einordnung einer Situation als realistisch, lebenspraktisch möglich und den Naturgesetzen entsprechend, abgegrenzt. Davon ausgehend, dass Menschen den Wirklichkeitsgehalt erlebter Situationen kontinuierlich überprüfen, werden verschiedene Erkrankungen und psychische Phänomene diskutiert, unter anderem der Wahn als Beispiel für gesteigertes Wirklichkeitserleben, die posttraumatische Belastungsstörung als Beispiel für Schwankungen des Wirklichkeitserlebens und das Achtsamkeitstraining als eine Möglichkeit, Wirklichkeitserleben aktiv zu verstärken. Die Beispiele zeigen, dass Wirklichkeitserleben unter anderem durch Emotionen und Sinnesreize beeinflusst wird. Als wesentliches Merkmal der Wirklichkeitswahrnehmung bei Gesunden wird Flexibilität im Umgang mit Wirklichkeitsnähe und –ferne identifiziert. Die hier diskutierten Überlegungen werden in Beziehung gesetzt zu einem von Seth et al. vorgeschlagenen, neurobiologischen Modell des Wirklichkeitserlebens (interoceptive predictive coding model). Seth et al. unterstreichen die Bedeutung der korrekten Vorhersage von Körper- und Außenwahrnehmungen für das Wirklichkeitserleben. Allerdings bieten sie keine befriedigende Erklärung für das verstärkte Wirklichkeitserleben bei Psychosekranken. Es wird deshalb eine Erweiterung ihres Modells vorgeschlagen. Abschließend werden Anwendungen diskutiert, die sich für die psychiatrische Forschung ergeben.

English Abstract

Reality perception can be changed both in psychiatric disorders as well as in healthy individuals. To describe such changes this article proposes a spectrum of reality perception ranging from "increased/very real" to "reduced/unreal". Reality perception has to be distinguished from the judgment if a situation is realistic. A dream with monsters may feel very real, but will certainly be judged as unrealistic after awakening. Factors influencing reality perception, like emotional content and sensory stimuli, are discussed in the context of various diseases and psychic phenomena, including delusions as an example of increased reality perception, post-traumatic stress disorder as an example of fluctuating reality perception and mindfulness training as a way to reinforce reality perception actively. Flexibility and the ability to influence reality perception intentionally are identified as key features of reality perception in healthy adults.

Research on virtual reality has brought up the term “presence” that describes reality perception in computer based, three dimensional virtual worlds. This research has resulted in the development of questionnaires measuring presence and in the description of subaspects of reality perception like “spatial presence”, “involvement” and “experienced realism”. The evidence provided by this research may help to gain better insight in reality perception in other contexts.

The considerations discussed here are compared to a neurobiological model of reality perception (interoceptive predictive coding model), developed by Seth et al. Seth et al. emphasize the importance of the correct prediction of body and external perception (intero- and exteroception) for the perception of reality. This is in line with the idea of reinforcing reality perception by mindfulness training that regularly includes the training of body awareness. However, the importance of emotions for reality perception is ignored by Seth et al. and they provide no plausible explanation for the increased reality perception going along with delusions. Here, it is suggested to extend the model by additional factors influencing reality perception.

In the end of the text, implications for future psychiatric research are discussed, e. g. a potential use of virtual reality to study reality perception in psychiatric disorders.

Einleitung

Seit ihren Anfängen fragt die Philosophie danach, was Wirklichkeit ist und welche Erkenntnisse über die Wirklichkeit uns unsere Sinnesorgane und unser Gehirn erlauben. Dabei ist umstritten, ob die Existenz einer Außenwelt bewiesen werden kann. Skeptiker argumentieren, letztlich könnten wir nicht wissen, ob wir die uns umgebende Wirklichkeit nicht beispielweise erträumen oder sie uns vorgegaukelt wird (Baumann, 2015, S. 19-25). Kritiker dieses Skeptizismus bemerken, dass es allerdings umgekehrt auch keinen Anhalt dafür gebe, dass die Außenwelt nicht existent sei (Baumann, 2015, S. 291). Im Alltag spielt dieses Problem dementsprechend eine geringe Rolle. Die meisten Menschen gehen selbstverständlich von der Existenz einer Außenwelt aus. Sie unterscheiden ihre Erfahrungen mit dieser Wirklichkeit von nicht-realen Erfahrungen bei sich selbst und anderen (z. B. Träumen, Halluzinationen). Die erkenntnistheoretischen Fragen, ob es eine subjektunabhängige Realität gibt, wie wir diese erkennen können, und ob uns entscheidende Aspekte möglicherweise durch die Beschränktheit unserer Sinnesorgane und Gehirne entgehen, sollen deshalb in diesem Text nicht die Hauptrolle spielen. Vielmehr geht es um die subjektive Seite des Erkenntnisprozesses: Auf welche Weise nehmen Menschen subjektiv und instinktiv Unterscheidungen zwischen realen nicht nicht-realen Erlebnissen vor, zum Beispiel zwischen einem Traum und der mit anderen Menschen geteilten Wirklichkeit? Wie der Text im Folgenden zeigen wird, spielt dieser subjektive Unterscheidungsprozess insbesondere für die Psychiatrie eine große Rolle. Psychische Erkrankungen und psychotrope Substanzen verändern das Erleben der Wirklichkeit und führen im Extremfall dazu, dass Betroffene sich in einer anderen Wirklichkeit glauben als der mit anderen Menschen geteilten. Dieser Artikel soll die folgenden Aspekte beleuchten:

Das Erleben der Wirklichkeit kann bei psychischen Erkrankungen (und auch bei Gesunden) nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ verändert sein. Diese quantitativen Veränderungen können nicht nur kategorial, sondern auch dimensional beschrieben werden. Das Erleben kann also nicht nur den Kategorien „wirklich“ oder „unwirklich“ zugeordnet werden, sondern es gibt ein Kontinuum bzw. Spektrum des Erlebens von „realer/besonders real“ bis „weniger real“. Das gilt sowohl für das Erleben der Wirklichkeit, die mit anderen Menschen geteilt wird, als auch für Erlebnisse, die von außen eindeutig als unwirklich identifiziert werden könnten, z. B. Träume oder psychotisches Erleben. Wichtig ist es, den in diesem Text im Vordergrund stehenden emotionalen Aspekt, ob sich etwas „wirklich“ oder „unwirklich“ anfühlt, zu trennen von dem analytisch gefällten Urteil, ob etwas „realistisch“ oder „unrealistisch“ ist. Ersteres beschreibe ich als Wirklichkeitsnähe oder –ferne, letzteres als Wirklichkeitsähnlichkeit oder –unähnlichkeit.

Wir überprüfen unser Erleben ständig auf dessen Realitätsgehalt. Es gibt Hinweise darauf, welche Faktoren beeinflussen, ob wir Erlebnisse als besonders wirklich oder weniger wirklich empfinden. Einer dieser Faktoren ist die Intensität des Affekts. Weitere, z. B. die Wahrnehmung von Details, werden diskutiert.

Die Sichtweise, nach der das quantitative Wirklichkeitserleben wie auf einer Achse in die eine oder andere Richtung verschoben sein kann, eröffnet neue Perspektiven für die psychiatrische Forschung: Mit modernen Techniken, z. B. der virtuellen Realität, könnte es in Zukunft gelingen, das Wirklichkeitserleben bei verschiedenen Krankheitsbildern besser zu erfassen. Gleichzeitig enthalten z. B. Fragebögen, die für das Bewerten des Erlebens in virtuellen Welten entwickelt wurden, Kriterien, die auch für die Erfassung der Wirklichkeitsbewertung in der nicht-virtuellen Realität relevant sein könnten.

Mehr und weniger wirklich

Bilder „schärfer als die Realität“ kennt nur die Werbung. Das Abbild kann nicht realer sein als die Realität. Aber können Situationen sich realer anfühlen als die Realität?

Eine Veränderung des Wirklichkeitserlebens spielt bei vielen psychischen Erkrankungen eine Rolle (American Psychiatric Association, 2013, z. B. S. 189-226 und S. 237-242). Im psychopathologischen Befund, der Beschreibung des psychischen Zustandes eines Patienten durch den Arzt, werden psychische Veränderungen oft dimensional beschrieben: Die Stimmung ist gedrückt oder gehoben oder liegt irgendwo zwischen diesen beiden Polen. Psychomotorisch kann ein Patient unruhig oder verlangsamt sein oder sich ebenfalls zwischen den Polen befinden. Das Wirklichkeitserleben wird im psychopathologischen Befund nicht dimensional beschrieben, sondern es werden Phänomene wie „Wahn“, „Wahrnehmungsstörungen“ oder „dissoziatives Erleben“ geschildert. Das ist sinnvoll, da ein bloßes „mehr“ oder „weniger“ diesen komplexen Erlebnissen nicht gerecht würde. Trotzdem lohnt es sich, das Wirklichkeitserleben unter einem dimensionalen Aspekt zu betrachten.

Im Folgenden soll gezeigt werden, warum eine Einteilung in die beiden Kategorien „wirklich“ und „nicht wirklich“ nicht ausreicht, und was unter einem vermehrten oder verminderten Erleben einer Situation als real verstanden werden kann. Außerdem soll das Erleben von „wirklich“ und „nicht/mehr/weniger wirklich“ abgrenzt werden von der Einschätzung als „realistisch“ oder „unrealistisch“. Erstere entspricht einem Gefühl, das im Weiteren näher charakterisiert werden soll. Letztere kann objektiv getroffen werden. Wer nachts davon träumt, gegen Monster zu kämpfen, wird am Morgen vielleicht erzählen, dass der Traum „unrealistisch“ gewesen sei. Dem wird jeder zustimmen können vor dem Hintergrund des Wissens, dass es keine Monster gibt. Die Einschätzung als „unrealistisch“ bezieht sich auf den direkten Vergleich des Traums mit der mit anderen Menschen geteilten Wirklichkeit. Wären die Erlebnisse auch dort möglich gewesen? Entsprechen sie den Naturgesetzen und den Gesetzen der Logik? Wird beides verneint, ist der Traum nicht realistisch. Ob sich die Monster im Traum mehr oder weniger real angefühlt haben, wird dagegen nur der Träumer beurteilen können. Objektive Kriterien sind irrelevant. Dabei kann sich ein unrealistischer Traum sehr real anfühlen und ein durchaus realistischer Traum weniger real.

In der Diagnostik psychischer Erkrankungen geht es oft um die Frage, ob ein Patient sein Erleben als real oder nicht als real einstuft. Zur Definition eines Wahns gehört es beispielsweise, dass der Patient vom Realitätsgehalt seines Erlebens „unkorrigierbar“ überzeugt ist.

„Delusions are fixed beliefs that are not amenable to change in the light of conflicting evidence.“[i] (American Psychiatric Association, 2013, S. 87)

Der Wahn wird nach dem US-amerikanischen Klassifikationssystem psychischer Erkrankungen DSM-V definiert als ein Erleben, das nicht beeinflussbar ist durch Beweise des Gegenteils, d. h. durch eine mit dem Wahn unvereinbare und trotzdem gleichzeitig erlebte Wirklichkeit. Warum ist das so? Der Wahnkranke erlebt seinen Wahn als Realität. Aber reicht das als Antwort? Erlebt er nicht gleichzeitig eine zweite Realität, die seiner entgegen steht? Ist es normal, sich selbst durch offensichtliche Beweise nicht vom Gegenteil überzeugen zu lassen, weil man etwas als wirklich erlebt? Nein, denn bei Gesunden ist das Wirklichkeitserleben – selbst der mit anderen Menschen geteilten Wirklichkeit – korrigierbar durch Auftauchen neuer Fakten. Wer einen als sehr wirklich empfundenen Traum hat, kann nach dem Aufwachen ohne Schwierigkeiten erkennen, das nur ein Hirngespinst war, was er für real gehalten hat. Beim so genannten „Klarträumen“, das spontan oder durch gezieltes Üben auftritt, gelingt dies selbst während des Traums. Es ist nicht ungewöhnlich, sich an Situationen anders zu erinnern als jemand, der sie gemeinsam mit einem erlebt hat. Sich widersprechende Zeugen sind zum Beispiel vor Gericht häufig (Ludewig et al. 2011). Dabei halten Zeugen, die mit diesen Widersprüchen konfrontiert werden, nicht – unkorrigierbar wie Psychosekranke – an ihren Überzeugungen fest. Viele werden eher unsicher werden, ob sie selbst sich womöglich falsch erinnern. Gesunde Menschen sind sowohl der Erkenntnis zugänglich, die Wirklichkeit falsch zu erinnern, als auch der Einsicht, sie falsch interpretiert zu haben. Ein Wahnkranker, der eine Wahnwahrnehmung hat, lässt sich nur schwer überzeugen, diese Wahrnehmung in einem anderen Licht zu sehen: Die Chefärztin guckt böse, weil sie mit meinen Verfolgern unter einer Decke steckt. Der begleitende Assistenzarzt bezieht den Blick der Chefärztin zunächst ebenfalls auf sich: Sie ist böse, weil sie mit meiner Arbeit nicht zufrieden ist. Wenn er neue Informationen erhält, z. B. weil die Chefärztin ihm erzählt, dass sie sich über etwas anderes geärgert hat, kann er seine Sichtweise jedoch verändern. Für Psychoseerkrankte ist ihr Wahn also nicht genauso real wie die Wirklichkeit für Gesunde, sondern realer als die Wirklichkeit. Die Tatsache, dass das Erlebte möglicherweise nicht realistisch ist, also einer objektiven Prüfung in Bezug auf seine Vereinbarkeit z. B. mit Naturgesetzen oder Wahrscheinlichkeiten nicht standhält, ist für den Psychosekranken unerheblich.

Veränderungen des Wirklichkeitserlebens, die in die Gegenrichtung führen, sind schnell gefunden. Es handelt sich um die unter dem Oberbegriff der Dissoziation zusammengefassten Störungen. Patienten mit dissoziativen Störungen erleben sich verändert oder verhalten sich verändert, weil ihnen Teile ihres Erlebens der Realität nicht mehr zugänglich sind, oft wird von einer fehlenden „psychischen Integration des Erlebens und Handelns“ (Fiedler, 2002, S. 1) gesprochen. Am häufigsten ist die Depersonalisations- oder Derealisationsstörung, welche die Veränderung des Wirklichkeitserlebens im Namen und auch in ihrer Definition führt (Fiedler, 2002, S. 5). Derealisationserleben wird nach ICD-10 definiert als ein „Gefühl von Unwirklichkeit“.  Ganz ähnlich beschrieben wird das Depersonalisationserleben als „ein Gefühl von entfernt sein, von ‚nicht richtig hier’ sein“ (WHO, 1994, S. 136).

Das Realometer

Dass quantitative Veränderungen des Realitätserlebens bei vielen psychischen Erkrankungen eine Rolle spielen, von den Patienten wahrgenommen und berichtet werden, legt nahe, dass das Gehirn Erlebtes ständig auf seinen Realitätsgehalt prüft und diesen mit dem Realitätsgehalt der bisher als real eingestuften Erlebnisse vergleicht. Wie wir einen inneren Zeitgeber haben, der uns – beeinflusst von äußeren und inneren Faktoren – informiert, wie lang ein Tag dauert und ob Schlafenszeit ist, hat unser Gehirn also ein „Realometer“, ein Messinstrument für den Wirklichkeitsgehalt von Erlebnissen.

Das Wort „Realometer“ wurde durch den US-amerikanischen Schriftsteller Henry David Thoreau in seinem Mitte des 19. Jahrhunderts entstandenen Erlebnisbericht „Walden oder Leben in den Wäldern“ geprägt. Thoreaus Thema ist die Reduktion, die Beschränkung auf Dinge, die für uns Menschen überlebenswichtig sind:

„Wir wollen uns niedersetzen und arbeiten und durch den Schlamm und Kot der Meinungen, der Vorurteile, der Tradition, der Täuschung und des Scheines […], durch Kirche und Staat, durch Poesie, Philosophie und Religion hindurch unsere Füße wetzen und reiben, bis wir auf harten Boden und Felsen an einen Ort gelangen, den wir Wirklichkeit nennen und von dem wir sagen können: ‚Das ist, das ist kein Irrtum.’ Und jetzt fange dein Werk an, nachdem du […] einen Stützpunkt gefunden hast, einen Platz, […] in dem du […] vielleicht einen Pegel einrammen kannst, kein Nilometer, sondern ein Realometer, damit die künftigen Geschlechter sehen können, wie hoch der Schlamm des Betruges und Scheines von Zeit zu Zeit angeschwemmt wurde.“ (Thoreau, 1854, S. 104-105)

Für Thoreau ist Wirklichkeit gleichbedeutend mit Wichtigkeit. Er ruft dazu auf, bewusst zu „messen“ bzw. wahrzunehmen, was sich wirklich anfühlt, um herauszufinden, was wichtig ist. Er traut dem inneren Realometer, wenn es bewusst aktiviert wird, eine Menge zu, erhebt es beinahe zu einem Maß für die Sinnhaftigkeit unseres Seins. In diesem Text soll das Realometer neutraler als Ergebnis des Zusammenspiels verschiedener Hirnfunktionen betrachtet werden. Wir werden aber im Folgenden sehen, dass der Zusammenhang, den Thoreau zwischen Wirklichkeitserleben und Wichtigkeit bzw. Sinnhaftigkeit sieht, nicht nur durch ihn hergestellt wird.

Welche Kriterien benutzt das Realometer für seine Prüfung? Ein Einflussfaktor ist das affektive Erleben. Menschen beschreiben in Situationen, die mit starken negativen Gefühlen einhergehen, oft ein verändertes Wirklichkeitserleben: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. In der Psychoanalyse wird dies als Ausdruck eines Abwehrmechanismus, nämlich des Verleugnens, beschrieben. Diese Abwehr tritt als spontane und oft erste Reaktion auf, z. B. bei Kübler-Ross als erstes Trauerstadium von Menschen, die erfahren, dass sie sterben müssen (Kübler-Ross, 1972, S. 176). Anscheinend können Menschen den Realitätsgehalt eines Erlebnisses herabstufen, wenn es günstiger wäre, das Geschehene wäre nicht real. Umgekehrt kann das Erleben in negativ besetzten Situationen sogar besonders real sein, nämlich so, dass überdeutlich und scheinbar verlangsamt –  wie gleichzeitig unter der räumlichen und in der Zeit-Lupe – jedes Detail wahrgenommen wird. In Filmen wird für dramatische Momente nicht selten tatsächlich eine Zeitlupe verwendet, um dieses Erleben nachzubilden.

Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung kennen beide Phänomene: Zunächst wirkt das Trauma unwirklich. Manchmal werden sogar wichtige Teile davon vergessen. Später drängt es sich durch besonders realistisch wirkende Erinnerungen oder Träume bis hin zu scheinbar realen Sinneseindrücken gegen ihren Willen immer wieder auf. Der Zeiger des Realometers zittert wild zwischen „gar nicht real“ und „mehr als real“ hin und her.

Auch positive Erlebnisse sind manchmal fast zu schön, um wahr zu sein. Sie können aber auch mit einem gesteigerten Wirklichkeitserleben assoziiert sein. Es gilt als erstrebenswert und mit positiven Gefühlen verbunden sich besonders  „lebendig“ zu fühlen, ein Zustand, der als verstärktes Wirklichkeitserleben eingeordnet werden kann. Dieses Ziel der Lebendigkeit wird im Kontext verschiedener psychischer Erkrankungen und Probleme zum Beispiel von Selbsthilfebüchern und Psychotherapie-Manualen formuliert (z. B. Buchard 2010, S. 1, Gruen 1994, S. 252; Lammers 2016, S. 216). Ansätze, um diesen Zustand bewusst herbeizuführen, kennen insbesondere die achtsamkeitsbasierten Therapien. Achtsamkeit ist ein komplexes Konzept mit buddhistischen Wurzeln, das durch Psychotherapeuten für die Behandlung von Erkrankungen weiterentwickelt wurde. Es meint unter anderem das „Gewahrsein dessen, was innen und außen im gegenwärtigen Moment vorgeht“ (Weiss, 2010, S. 15), also die bewusste Wahrnehmung des Augenblicks mit seinen Details. Wer Achtsamkeitsübungen durchführt, versucht, durch Wahrnehmen von mehr Details ein Gefühl von Wirklichkeit zu erzeugen. Fühlen Menschen sich also besser, wenn sie das Gefühl von Lebendigkeit oder Wirklichkeit stärken? Und ist das bewusste Wahrnehmen von Details ein geeignetes Mittel, um das Gefühl von „Wirklichkeit“ zu vermehren? Zumindest werden Achtsamkeitsübungen erfolgreich bei Erkrankungen eingesetzt, die mit einem verminderten Wirklichkeitserleben, z. B. in Form von Dissoziation, einhergehen. Ein Beispiel ist Achtsamkeit als Element der dialektisch-behavioralen Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung (Berger, 2009, S. 867). Thoreau schlägt in seinem Buch im Zusammenhang mit der Einführung des Realometer-Begriffs eine Geisteshaltung vor, die stark an das Achtsamkeitskonzept erinnert:

„Wir sind nur dann imstande, alles Edle und Erhabene aufzufassen, wenn wir stets die uns umgebende Wirklichkeit in uns aufnehmen, uns von ihr ganz durchdringen lassen.“ (Thoreau, 1854, S. 104)

Allerdings kann auch das Entfernen aus der Wirklichkeit mit angenehmen Empfindungen verbunden sein. Tagträumer werden das bestätigen. Auch Entspannungstechniken wie Hypnose oder Phantasiereisen setzen darauf. Möglicherweise zeichnen sich gesunde Menschen durch eine Flexibilität im Realitätserleben aus, indem sie zwischen Zuständen der Realitätsnähe und –ferne (in bestimmten Grenzen) hin- und herwechseln können. Dabei schafft gerade der Wechsel zwischen realitätsnahen und realitätsfernen Perspektiven Entspannung. Möglicherweise spielt auch das Gefühl der Selbstwirksamkeit, der Kontrolle über das eigene Wirklichkeitserleben, eine Rolle. Umgekehrt sind Patienten mit Psychoseerkrankungen oder dissoziativen Störungen in einer extremen Realitätsnähe bzw. –ferne gefangen, ähnlich wie Patienten mit bipolaren Störungen in extremen emotionalen Zuständen wie Gereiztheit, Euphorie oder gedrückter Stimmung. Wechsel zwischen Realitätsnähe und –ferne kommen zwar vor, sind aber – wiederum analog zum Stimmungswechsel bei Patienten mit bipolaren Störungen – von spontaner Natur und werden durch den Patienten als kaum beeinflussbar erlebt. Analog zum Realitätserleben ist es gesünder, ein Spektrum von Gefühlen zu erleben, ohne in Extreme zu geraten und dabei eine (begrenzte) Kontrolle über die eigenen Gefühle auszuüben.

Virtuelle Realität

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Techniken entwickelt, künstliche oder virtuelle Welten zu erschaffen, die sich durch ihre bewegten Bilder von einfachen Erzählungen und Zeichnungen oder Gemälden unterschieden. Zunächst entstand der Schwarz-Weiß- dann der Farbfilm, später Filme und Computerwelten mit zunehmend realistischerer dreidimensionaler Darstellung. Haben diese künstlichen Wirklichkeiten das Erleben psychischer Erkrankungen verändert? Britische Forscher verglichen Krankenakten von Soldaten, die in Kriegen ab 1854 gekämpft hatten und an posttraumatischer Belastungsstörungen oder Vorläufererkrankungen wie dem „Kriegszittern“ („shellshock“) gelitten hatten (Jones et al., 2003, S. 158-159). Die Häufigkeit von Flashbacks war unter den Soldaten kürzer zurück liegender Kriege deutlich höher als bei den länger zurückliegenden. Die Autoren vermuten einen Zusammenhang mit der Entwicklung und Verbreitung der Filmtechnik mit ihren Rückblenden, die dem Charakter von Flashbacks ähneln (Jones et al., 2003, S. 161-163). Haben die Soldaten also ein Symptom entwickelt, das sie aus Filmen kannten? Obwohl es andere mögliche Erklärungen einschließlich methodischer Schwierigkeiten – angesichts der retrospektiven Analyse von z. T. über hundert Jahre alten Krankenakten –  für das Ergebnis von Jones et al. gibt, stelle ich dieses Beispiel dem Kapitel voran, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Sprache, mit der wir von unserem Wirklichkeitserleben berichten, geprägt ist durch Erfahrungen mit technisch erzeugten Wirklichkeiten. Vor Entstehung der „Traumfabriken“ gab es Filme nur als Privatvorstellungen vor dem inneren Auge, im Schlaf, im Rausch oder in der Psychoseerkrankung. Gab es vor Erfindung des Films das Gefühl, etwas passiere „wie in Zeitlupe“? Liefen manche Träume schon davor „wie ein Film“ ab? Oder sind diese Eindrücke Ergebnis der Filmkultur? Zumindest in Bezug auf die Fähigkeit, etwas als mehr oder weniger wirklich zu erleben, gehe ich davon aus, dass sie nicht erst in diesem Zeitraum entstanden. Wie wir dieses Erleben heute beschreiben, mag aber (auch) ein Produkt unserer Kinoerlebnisse sein.

Wenn Menschen sich in einer virtuellen Realität bewegen, entsteht ein Gefühl, sich tatsächlich dort zu befinden, wobei das Erleben der realen Umgebung in den Hintergrund tritt. Das Gefühl wird in der Terminologie der Forscher auf diesem Gebiet „Präsenz“ genannt. Präsenzerleben zeigt sich z. B. dadurch, dass Probanden in einer virtuellen Realität Gefühle entwickeln wie in einer vergleichbaren Situation in der Wirklichkeit, z. B. in einer Studie von Regenbrecht et al. Angst vor Höhe, als sie an einer virtuellen Klippe standen (Regenbrecht, 1998, S. 243). Nach einem Vorschlag von Mel Slater wird Präsenz in der virtuellen Realität von Immersion unterschieden. Präsenz (Englisch presence) ist für Slater das Gefühl, sich in der virtuellen Realität zu befinden wie an jedem anderen realen Ort, den man schon besucht hat. Probanden mit starkem Präsenzerleben reagierten laut Slater eher auf Ereignisse in der virtuellen Realität als in der realen Umgebung, bauten z. B. Geräusche aus der Umgebung in die virtuelle Realität ein und duckten sich, wenn ein virtuelles Objekt auf sie zuflog (Slater, 1999, S. 560-561). Immersion (Englisch immersion) beschreibt dagegen objektive Eigenschaften der virtuellen Realität, d. h. die Technik, mit der versucht wird, ein möglichst starkes Präsenzerleben zu erzeugen. Slater nennt als Beispiele ein größeres Blickfeld oder das Erzeugen von Schatten als Eigenschaften von virtuellen Realitäten, die eine bessere Immersion ermöglichen. Das Ziel von Immersion ist zwar Präsenz, aber ob es erreicht wird, hängt nicht nur von der Technik, sondern auch von dem Probanden, z. B. seiner Psyche und der aktuellen Situation ab (Slater, 1999, S. 560). Der Gegensatz zwischen Präsenz und Immersion ist also der Gegensatz zwischen real und realistisch, übertragen auf die virtuelle Realität.

Präsenzerleben ist nichts anderes als Wirklichkeitserleben, mit diesem Begriff gemeint in einer spezifischen Situation, nämlich der virtuellen Realität. Wie oben bereits für das Wirklichkeitserleben beschrieben, kann die Situation als mehr oder weniger wirklich erlebt werden. Neu ist aber, dass bei der Gestaltung von virtuellen Realitäten versucht wird, das Wirklichkeitserleben gezielt zu steigern. Die (Immersions-)Eigenschaften der virtuellen Realität lassen sich verändern, um anschließend zu erfassen, wie sich dies auf das Präsenz- bzw. Wirklichkeitserleben auswirkt. Schubert et al. (2001) haben einen Fragebogen entwickelt, um Präsenzerleben quantitativ messen zu können. Ihre Hypothese war, dass das Präsenzerleben Ausdruck der Konstruktion eines inneren räumlich-funktionalen Modells der virtuellen Realität ist:

„Two cognitive processes lead to this model: the representation of bodily actions as possible actions in the VE [virtual environment], and the suppression of incompatible sensory input.“[ii] (Schubert, 2001, S. 266)

Anhand von großen Umfragen unter Nutzern von virtuellen Realitäten, insbesondere Computerspielen, und mittels Faktorenanalyse bestätigten sie diese Hypothese. Als dritte Komponente, die zum Präsenzerleben beiträgt, machten sie neben dem Raumerleben bzw. der räumlichen Präsenz (Englisch spatial presence) und der inneren Beteiligung bzw. sinnlichen Einbindung (Englisch involvement) das Gefühl von Echtheit bzw. Wirklichkeit des Erlebten (Englisch realness) aus (Schubert, 2001, S. 271). Aussagen bzw. Fragen, die dieser dritten Komponente zugeordnet werden konnten, sind z. B.  „Wie real erschien Ihnen die virtuelle Umgebung?“ (vollkommen real/gar nicht real) und „Die virtuelle Welt erschien mir wirklicher als die reale Welt.“ (trifft gar nicht zu/trifft völlig zu) (www.igroup.org, Igroup Presence Questionnaire).

Schubert et al. machen also einen Versuch, das Wirklichkeitserleben zu messen, und benennen gleichzeitig Komponenten, die dafür sorgen, dass wir eine Situation als besonders wirklich oder als weniger wirklich erleben. Dass das räumliche Erleben und das Erleben von Sinneseindrücken dabei eine große Rolle spielen, ist einleuchtend. Die letzte Komponente der „realness“ ist diffuser und hat etwas Tautologisches: Das Erleben von Präsenz ist größer, wenn sich eine Situation wirklicher anfühlt. Das heißt nichts anderes als: Es fühlt sich wirklicher an, wenn es sich wirklicher anfühlt. Das Existieren dieser dritten, unabhängigen Komponente bestätigt die Vermutung, dass das Wirklichkeitserleben in einer Situation mehr ist als die Summe der Sinneseindrücke, die wir verarbeiten. Ähnlich wie unser innerer Zeitgeber reagiert auch unser Realometer nicht nur auf Außenreize, sondern unterliegt eigenen Gesetzen.

Zum Einfluss des affektiven Erlebens auf die Präsenz (oder das Wirklichkeitserleben) in der virtuellen Realität gibt es einige Studienergebnisse. Ein Artikel von Riva et al. aus dem Jahr 2007 fasst die Daten einer Studie zusammen, in der Probanden sich in einem virtuellen Park befanden, der durch Veränderungen von Klängen, Licht, Schatten und Aufbau entweder Entspannung oder Angst hervorrufen sollte. Eine dritte Parkszene war neutral. Das Hervorrufen der entsprechenden Emotionen gelang:

„The data also showed a circular interaction between presence and emotions: on one side, the feeling of presence was greater in the ‘emotional’ environments; on the other side, the emotional state was influenced by the level of presence.”[iii] (Riva et al., 2007, S. 45)

Dieses Ergebnis deckt sich mit der oben bereits diskutierten Beobachtung, dass starke Emotionen wie Freude oder Angst das Wirklichkeitserleben auch außerhalb von virtuellen Realitäten verstärken können, wobei es auch das umgekehrte Phänomen gibt, bei dem möglicherweise gerade während sehr starker Emotionen außerhalb des üblichen Erlebnisbereiches die verstärkte Wirklichkeitswahrnehmung abgewehrt und in ihr Gegenteil verkehrt wird. Innerhalb des experimentellen Settings zeigten sich bei Riva et al. Emotionen von geringer bis moderater Intensität (angegeben auf einer visuellen Analogskala), so dass es nicht erstaunt, dass eine Verstärkung des Wirklichkeitserlebens beobachtet werden konnte. Die gegenseitige Beeinflussung von Emotion und Wirklichkeitserleben – d. h. die Möglichkeit Einflussnahme in beide Richtungen des einen auf das andere – deckt sich mit dem, was das bisherige Wissen über Wirklichkeitserleben bei psychischen Erkrankungen und z. B. Achtsamkeitsübungen nahe legt.

Fragebögen zur virtuellen Realität wie der Igroup Presence Questionnaire sind interessant für die zukünftige psychiatrische Forschung, da sie zur Erfassung des Wirklichkeitserlebens z. B. bei Wahnerkrankungen weiterentwickelt werden könnten. Usoh et al. erfassten im Jahr 2000 bereits das Wirklichkeitserleben in der mit anderen Menschen geteilten Wirklichkeit mit zwei Fragebögen, die zur Erfassung des Wirklichkeitserlebens in virtuellen Realitäten entwickelt worden waren. Es zeigte sich, dass es bei einem Fragebogen gar keine und bei dem anderen nur minimale Unterschiede zwischen Personen gab, die in einer virtuellen Realität nach einem Gegenstand gesucht hatten, und solchen, die diese Suche in der normalen Wirklichkeit durchgeführt hatten. Dies enttäuschte die Forscher, die zu Recht darauf verwiesen, dass sich die Fragebögen anscheinend nur zum Vergleich verschiedener Personen innerhalb eines Settings, nicht aber zwischen unterschiedlichen Arten von Realitätserfahrungen eignen (Usoh et al., 2000, S. 502-503). Aus meiner Sicht unterstreicht es, dass auch das Wirklichkeitserleben in der Wirklichkeit Schwankungen unterliegt und nicht als absolute Referenz für die virtuellen Realitäten im Sinn eines „hundertprozentigen“ Wirklichkeitsgefühls taugt.

Seth et al. entwickeln auf Basis des bisherigen Wissensstandes über Wirklichkeitserleben in der virtuellen Realität und bei psychischen Erkrankungen ein Modell des Wirklichkeitserlebens.

„The core concept of the model is that a sense of presence arises when informative interoceptive prediction signals are successfully matched to inputs so that prediction errors are suppressed.[iv] (Seth et al. 2012, S. 3)

Entscheidend für das Wirklichkeitsempfinden ist also nach Seth et al. die korrekte oder inkorrekte Vorhersage einer Empfindung, d. h. Seth et al. postulieren Wirklichkeitserleben als Ergebnis eines Feedbackmechanismus, aus dem hervorgeht, ob die eigenen Annahmen über die innere und äußere Wirklichkeit sich bestätigen, wobei Fehlannahmen unterdrückt werden müssen. Eine Diskrepanz zwischen Annahme und Feedback sowie das unzureichende Unterdrücken von Fehlannahmen führen demnach zu einem Gefühl von Unwirklichkeit. Die Stärke der Affekte spielt in diesem Modell keine Rolle, sondern nur die korrekte Vorhersage des Auftretens bestimmter Gefühle. Das Erzeugen von Unwirklichkeitserleben durch besonders starke Affekte lässt sich innerhalb des Modells aus meiner Sicht dadurch erklären, dass extreme Empfindungen, die außerhalb des bisherigen Erfahrungsschatzes liegen, schwieriger vorherzusagen sind, also eine Diskrepanz zwischen Vorhersage und Erleben wahrscheinlicher wird. Eine Steigerung des Wirklichkeitserlebens durch besonders starke Gefühle innerhalb des Modells zu begründen, fällt dagegen schwer. Seth et al. gehen auf diesen Aspekt nicht ein. Auch die Möglichkeit, selbst aktiv Einfluss auf das eigene Wirklichkeitserleben zu nehmen und der Verlust dieser Möglichkeit bei manchen psychischen Erkrankungen sind nicht einbezogen. Die Idee, dass Intero- und Exterozeption, also die Wahrnehmung von Details sowohl des eigenen Körpers als auch der Außenwelt, für das Gefühl von Wirklichkeit eine Rolle spielen, passt allerdings gut zum Achtsamkeitskonzept. Bei Achtsamkeitsübungen wird bewusst auf innere und/oder äußere Wahrnehmungen geachtet. Würde man das Modell von Seth et al. unter Berücksichtigung der Möglichkeit einer bewussten Einflussnahme auf die Wirklichkeitswahrnehmung weiterentwickeln, ließe sich Achtsamkeit folgendermaßen deuten: Das Lenken der Aufmerksamkeit auf Intero- und Exterozeption verringert die Wahrscheinlichkeit von Vorhersagefehlern.

Interessanterweise diskutieren Seth et al. den Verfolgungswahn schizophrener Patienten als Versuch, Vorhersagefehler „weg zu erklären“, also die durch die Fehler entstandene Unsicherheit über die Wirklichkeit durch ein neues Wirklichkeitskonstrukt zu beseitigen (Seth et al., 2012, S. 9). Sie berufen sich auf das Komparatormodell der Schizophrenie, nach dem eine wesentliche Störung bei dieser Erkrankung im Bereich der Efferenzkopien liegt, also im Bereich der Hirnfunktionen, mit denen wir die Konsequenzen unserer Handlungen so vorhersagen, dass es uns möglich wird, zwischen eigener und fremder Handlung zu unterscheiden (Frith, 2011, S. 52). Das Phänomen, dass der Wahn von den betroffenen Patienten als „wirklicher“ erlebt wird als die von ihnen mit anderen Menschen geteilte Wirklichkeit, ist damit aber nicht erklärt. Außerdem ist der Wahn weder der angenehmste Lückenfüller – oft fühlen sich die Patienten in ihrem Leben bedroht – noch die Erklärung, die am nächsten liegt. Selbst wenn wir von ausgeprägten Defiziten in den Bereichen Inter- und Exterozeption sowie der Vorhersage dieser Empfindungen ausgehen, sollten noch immer mehr Informationen im Gehirn des Erkrankten eintreffen, die mit der eigentlichen Wirklichkeit kompatibel sind als mit dem Wahnsystem. Wahnkranke zeichnen sich aber durch erhebliche Bemühungen aus, selbst Informationen, die sehr schlecht dazu passen, innerhalb ihres Wahnsystems zu erklären (Frith, 2011, S. 53). Wer mit Patienten mit Wahnerkrankungen arbeitet, weiß, dass diese Erklärungen z. T. äußert kreativ sind, z. T. aber auch starke logische Brüche akzeptiert werden, nur um die Erklärung innerhalb des Wahnsystems aufrecht zu erhalten. Der Wahn reißt also deutlich mehr Erklärungslücken als er zu füllen in der Lage ist. Frith, einer der wichtigsten (Weiter-)Entwickler des Komparatormodells der Schizophrenie, sieht dieses Problem selbst:

„Indeed, there is evidence that the automatic predictions that occur well below awareness are intact in patients with delusions of control […]. The problems arise at a higher level […]. Another problem with the proposal is that observations of a number of disorders, including schizophrenia, show that a mere failure of prediction is not sufficient to generate a delusion […]. Unlike healthy subjects, delusional patients are prepared to explain anomalous perception in terms of beliefs that are highly implausible.”[v] (Frith, 2011, S. 53)

Schubert et al. als Autoren des Igroup Presence Questionnaire identifizieren neben den auf Außenwahrnehmungen bezogenen Komponenten des Präsenzerlebens spacial presence und involvement als dritte Komponente die realness. Auch sie findet ein Korrelat in dem Modell von Seth:

„Interestingly, in this arrangement an additional generative component is needed to generate predictive interoceptive signals given the current state of both agency and presence components. We speculate that this integrative generative model may be a key component of a core sense of selfhood, in line with recent hierarchical models of the self […].”[vi] (Seth et al., 2012, S. 4)

Ist vielleicht diese Komponente des Wirklichkeitserlebens weniger stark durch Intero- und Exterozeption und stärker durch das emotionale Erleben beeinflusst?

Als weiteres Problem des Modells von Seth et al. sehe ich, dass es nicht erklärt, warum wir uns z. B. in virtuellen Welten so leicht täuschen lassen und dort ein Präsenzerleben entstehen kann, obwohl wir erstens wissen, dass wir nicht dort sind, und zweitens viele Signale, die wir empfangen, nicht zu der virtuellen Welt passen. Die Frage, warum Gesunde diese Diskrepanz aushalten und anschließend wieder in die reale Welt wechseln können, Psychosepatienten aber nicht, bleibt unbeantwortet. Deshalb ist das Modell aus meiner Sicht auch schwerer zu testen, als Seth et al denken:

„A basic prediction of the model is that artificially induced imprecision in interoceptive predictions should lead to diminished conscious presence […].” (Seth et al., 2012, S. 12)[vii]

Wir wissen aber schon, dass das bei Gesunden nicht passiert. Sie schaffen es, sich – nicht nur in der virtuellen Realität, sondern z. B. auch im Traum –  als laufend zu erleben, obwohl ihre Interozeption ihnen etwas anderes sagt. (Und sie im Nachhinein auch wissen, dass sie nicht gelaufen sind.) Ich vermute, dass Gesunde Vorhersagefehler in größerem Ausmaß unterdrücken können als von Seth et al. angenommen, sehr flexibel und eben auch ganz bewusst, wenn sie sich auf eine virtuelle Realität einlassen wollen. Diese Flexibilität im Wirklichkeitserleben unterscheidet sie von Psychosepatienten, nicht die grundsätzlich bessere Übereinstimmung zwischen Vorhersage und Intero- bzw. Exterozeption.

Zusammenfassung und Ausblick

Wirklichkeitserleben ist genau wie die Stimmung ein Merkmal des Zustandes der Seele, das gesteigert oder vermindert sein kann. Das Wirklichkeitserleben steht mit dem emotionalen Erleben in einer komplexen Wechselwirkung. Auch unsere Sinneswahrnehmungen spielen eine Rolle für das Wirklichkeitserleben. Das Erleben der Situation als real, das Wirklichkeitserleben, kann aber von der Wahrnehmung körpereigener und äußerer Reize unabhängig sein, z. B. in der Psychose.

Gesunde haben – in Grenzen – die Wahl, als besonders wirklich zu erleben, was ihnen besonders wichtig ist. Sie können ihr Wirklichkeitserleben durch Achtsamkeitsübungen stärken oder sich als Tagträumer aus der Wirklichkeit zurückzuziehen. Diese Flexibilität und Selbstwirksamkeit in Bezug auf das Wirklichkeitserleben ähnelt stark der Flexibilität und Selbstwirksamkeit, über die Gesunde im Umgang mit ihrer Stimmung verfügen.

Eine philosophische Beschäftigung mit dem Wirklichkeitsbegriff vor dem Hintergrund der Kenntnisse der psychiatrischen und neurobiologischen Forschung ist wichtig, um Verwechselungen, Missverständnissen und Ungenauigkeiten vorzubeugen. An mehreren Beispielen versucht dieser Text zu zeigen, dass z. B. eine scharfe Trennung zwischen den Begriffen „real“ und „realistisch“ entscheidend für die Entwicklung von in sich schlüssigen Fragebögen und Modellen zum Wirklichkeitserleben ist. Kann die Beschreibung der psychischen Vorgänge, die dem Wirklichkeitserleben zugrunde liegen, umgekehrt auch einen Beitrag zur philosophischen Debatte über Wirklichkeit leisten? Einerseits nährt sie die philosophischen Zweifel daran, wie weit unsere Erkenntnismöglichkeiten in Bezug auf die Wirklichkeit reichen. Das Urteil, ob etwas wirklich ist, ist von Emotionen abhängig und von der (störanfälligen) Intero- und Exterozeption. Die Unterscheidung zwischen „wirklich“ und „unwirklich“ zeigt sich als subjektiver, für Manipulationen anfälliger und Schwankungen unterworfener Akt.  Andererseits ist diese Unterscheidung aber auch die Voraussetzung für das philosophische Fragen nach der Existenz einer Außenwelt. Wir können denken, dass etwas „unwirklich“ ist. Deshalb können wir auch denken, dass das, was uns wirklich vorkommt, unwirklich sein könnte. 

Für die zukünftige psychiatrische Forschung ergeben sich aus Überlegungen zum Wirklichkeitserleben zahlreiche Fragestellungen: Virtuelle Welten werden in der Psychiatrie bisher hauptsächlich zur Konfrontationsbehandlung bei Angsterkrankungen eingesetzt (vgl. Diemer, 2013, S. 1551-60). Sie könnten aber auch genutzt werden, um das Wirklichkeitserleben z. B. bei Wahnerkrankungen und dissoziativen Störungen zu erforschen. Verschiedene Sinneswahrnehmungen lassen sich in der virtuellen Realität gezielt erzeugen, wobei ihr Einfluss auf das Wirklichkeitserleben erfasst werden kann. Auch der Zusammenhang mit dem emotionalen Erleben kann in einer solchen Umgebung sehr standardisiert erforscht werden. Das therapeutische Potential von Achtsamkeitsübungen und anderen Techniken, mit denen sich das Wirklichkeitserleben kontrollieren lässt, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit noch nicht ausgeschöpft und sollte ebenfalls in Bezug auf Erkrankungen des Wirklichkeitserlebens weiter erforscht werden.

Literatur

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[i] „Ein Wahn ist gekennzeichnet durch feste Überzeugungen, die sich durch ihnen entgegen stehende Beweise nicht verändern lassen.“ (American Psychiatric Association, 2013, S. 87)

 

[ii] „Zwei kognitive Prozesse führen zu diesem Modell: Die Repräsentation von Körperbewegungen als möglichen Bewegungen in der virtuellen Realität, und die Unterdrückung von inkompatiblem sensorischem Input.“ (Schubert 2001, S. 266)

 

[iii] „Die Daten zeigten eine gegenseitige Beeinflussung von Präsenz und Emotionen: Einerseits war das Gefühl von Präsenz stärker in den ‚emotionalen‘ Umgebungen; auf der anderen Seite wurde der emotionale Zustand beeinflusst durch die Stärke des Präsenzerlebens.“ (Riva et al., S. 45)

 

[iv] „Das Kernkonzept des Modells ist, dass ein Gefühl von Präsenz auftritt, wenn die durch interozeptive Vorhersagesignale erhaltenen Informationen erfolgreich verknüpft werden mit der eigenen Wahrnehmung, so dass Vorhersagefehler unterdrückt werden.“ (Seth et al., 2013, S. 3)

 

[v] „Tatsächlich gibt es Evidenz dafür, dass automatische Vorhersagen, die unbewusst auftreten, bei Patienten mit Verfolgungswahn intakt sind […]. Die Probleme entstehen auf einer höheren Ebene […]. Ein anderes Problem dieses Vorschlags ist, dass Beobachtungen bei einer ganzen Anzahl von Erkrankungen einschließlich Schizophrenie zeigen, dass ein bloßer Vorhersagefehler nicht ausreicht, um einen Wahn hervorzurufen […]. Anders als gesunde Menschen sind Patienten mit Wahn dazu bereit, ungewöhnliche Wahrnehmungen im Sinne von Annahmen zu erklären, die sehr unplausibel sind.” (Frith, 2011, S. 53)

 

[vi] „Interessanterweise wird in diesem Regelkreis eine zusätzliche generative Komponente gebraucht, um interozeptive Vorhersagesignale zu erzeugen, welche den aktuellen Status von sowohl Wirksamkeits- als auch Präsenzkomponenten anzeigen. Wir vermuten, dass dieses integrative generative Modell eine Kernkomponente des Selbst sein könnte, passend zu aktuellen hierarchischen Modellen des Selbst […].“ (Seth et al., 2012, S. 4)

 

[vii] „Eine wesentliche Voraussetzung für das Modell ist, dass artifiziell induzierte Ungenauigkeit interozeptiver Vorhersagen zu einer Verminderung des bewussten Präsenzerlebens führt […].“ (Seth et al., 2012, S. 12)

Authors’ information: 

Dr. Swantje Notzon studied medicine at the University of Münster. Since 2009 she works as a medical doctor at the Department for Psychiatry and Psychotherapy at the University Hospital of Münster.  She received her doctoral degree in 2010. In 2014 she completed her specialisation in psychiatry and psychotherapy. From 2013 to 2015 she worked as a research fellow in the collaborative research centre "Fear, Anxiety, Anxiety Disorders". Her main research interests include virtual reality, medical ethics, anxiety disorders and brain stimulation. For the article published in JFPP the "DGPPN-Förderpreis für Philosophie in der Psychiatrie 2013" was awarded to her.

 

Uniklinik Münster

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Albert-Schweitzer-Campus 1 Gebäude A9

48149 Münster

 

swantje.notzon@ukmuenster.de




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