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Rezension von Tebartz van Elst, Ludger (2015): Freiheit. Psychobiologische Errungenschaft und neurokognitiver Auftrag


 

Raphael Rauh

[Journal für Philosophie & Psychiatrie, January 2016, Recension]

 

 

 „An einer Theorie ist wahrhaftig nicht ihr geringster Reiz, dass sie widerlegbar ist: gerade damit zieht sie feinere Köpfe an. Es scheint, dass die hundertfach widerlegte Theorie vom ‚freien Willen‘ ihre Fortdauer nur noch diesem Reize verdankt –: immer wieder kommt Jemand und fühlt sich stark genug, sie zu widerlegen.“ (Nietzsche (1999) – § 18)

 

Diese Worte Friedrich Nietzsches sind merkwürdig. Sie stellen fest, dass es Theorien gibt, welche die Freiheit des Willens behaupten. Diese Theorien seien allerdings hundertfach widerlegt. Trotzdem bestehen sie fort, nicht, weil sie noch wissenschaftliche Evidenz hätten, sondern mutmaßlich allein deshalb, weil sie widerlegbar sind. Auch wenn an die Sache, an die Realität des freien Willens keiner mehr glaubt, so fühlt sich auf modernem Boden noch immer manch feinerer Geist herausgefordert, jenen idealen Widerschein einer überkommenen Weltanschauung als ein begriffliches Problem ernst zu nehmen. Das Denken kann scheinbar von jener tradierten Idealität nicht lassen. Belebt es sie dadurch notwendig wieder? Im auf das Zitat folgenden Paragraphen führt Nietzsche seinen Beweis der Kraft in einer Phänomenologie des Wollens durch.

 

Ausgehend von der Frage „Kaffee, Tee oder Bier?“ entwirft auch der Neurowissenschaftler und Psychiater Ludger Tebartz van Elst (Freiburg) in seinem Essay Freiheit. Psychobiologische Errungenschaften und neurokognitiver Auftrag eine phänomenologische Beschreibung des Willensprozesses. Wie Nietzsche hat auch Tebartz van Elst einen Kontrapunkt, an dem die eigene These aufgezogen wird. Er heißt hier nicht Schopenhauer („Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will“), sondern Libet. Tebartz van Elst will dabei allerdings nicht – wie Nietzsche scheinbar – die Theorie vom freien Willen widerlegen, vielmehr im Gegenteil: deren vermeintliche Widerlegungen entkräften, um zu einem positiven Freiheitsverständnis zu gelangen. Der zentrale Vorwurf gegen die berühmten Experimente ist: „sie messen nicht das, was sie behaupten, zu messen.“ (S. 56) Die klassische, allerdings bald von ihm selbst modifizierte These Libets (vgl. Libet (2004)) wie auch jüngerer Neurobiologen (vgl. Roth (2004), Singer (2004)) ist unterm Strich: wir sind nicht Herr im eigenen Haus; bevor uns das Gefühl einer Entscheidungsfällung bewusst wird, hat unser Gehirn schon geschaltet. ‚Wir‘ hinken ‚unserem Gehirn‘ also immer hinterher; das Gefühl der freien Selbstverursachung von Handlungen ist eine Täuschung. Tebartz van Elst stellt dagegen die Frage: ist es sinnvoll, die Beobachtungen jener Experimente als Korrelat für das auszuweisen, was wir als „Freiheit des Willens“ bezeichnen? Nein. Hier wird vielmehr eine Art „Zufallsmotorik“ beschrieben, die nicht sinnvoll mit dem korrespondiert, was wir Freiheit im Wollen nennen. Ausgehend von einer Analyse der alltagssprachlichen Verwendung dieser Phänomenalität, destilliert Tebartz van Elst vier Kriterien heraus, die erfüllt sein müssen, um von einer Freiheit des Wollens reden zu können. Erstens bezieht sich „Wollen“ immer auf bewusste Entscheidungsprozesse; zweitens müssen mehrere Handlungsalternativen zur Auswahl stehen; eine dieser Alternativen wird drittens aus Gründen oder Motiven ausgewählt und schließlich viertens in eine entsprechende Handlung übersetzt. Ist die Freiheit des Willens also lediglich eine Definitionssache?

 

Tebartz van Elst möchte in jedem Fall „die Grundzüge eines positiven Verständnisses von Willensfreiheit als psychobiologische Leistung von höheren Lebewesen […] skizzieren.“ (S. 18) Willenshandlungen und -entscheidungen sind  keine „einfache[n] mentale[n] Teilleistung[en]“ – so wie sie in den klassischen Experimenten allein in den Blick kommen –, sondern „Komplexleistungen, die auf eine Vielzahl anderer mentaler Teilleistungen und Komplexleistungen zurückgreifen.“ (S. 16) Bei einem Entscheidungsprozess spielen biografische Erkenntnisse eine Rolle, Handlungsalternativen werden auf Grund dieser modelliert, an individuelle Bedingungen gekoppelt und an Kontextbedingungen angepasst (vgl. S. 16).

 

Tebartz van Elst positioniert sich in diesem Kontext als monistischer Naturalist. Er identifiziert ontologisch mentale mit körperlichen Prozessen. Die Natur als Untersuchungsgegenstand wird bei den meisten Wissenschaftlern intuitiv als das Reich der Notwendigkeit, also Determiniertheit aufgefasst, was auch an der Methodik ihrer Untersuchungen hängt. Interessanterweise wird in der Argumentation von Tebartz van Elst aus dem Mangel naturwissenschaftlicher Experimental-Methodik ein neuer Denkraum für „Freiheit“ geöffnet. Die individuierte Körperlichkeit jedes höheren Lebewesens sei im Prinzip nicht objektivierbar und determinierbar (vgl. S. 17). Experimentelle Messungen mentaler Funktionen können nie adäquat abbilden, was sich im Individuum – aus der Ersten-Person-Perspektive – während eines mentalen Prozesses abspielt. Tebartz van Elst argumentiert damit gegen einen „physikalischen Determinismus“, der als Vorannahme in jede experimentelle Messung von mentalen Leistungen eingeht (vgl. S. 37).

 

Nietzsche sieht das offenbar ganz ähnlich, er drückt es nur etwas ruppiger aus: „Man soll nicht ‚Ursache‘ und ‚Wirkung‘ fehlerhaft verdinglichen, wie es die Naturforscher thun (und wer gleich ihnen heute im Denken naturalisirt – ) gemäss der herrschenden mechanistischen Tölpelei, welche die Ursache drücken und stossen lässt, bis sie ‚wirkt‘; man soll sich der ‚Ursache‘, der ‚Wirkung‘ eben nur als reiner Begriffe bedienen, das heisst als conventioneller Fiktionen zum Zweck der Bezeichnung, der Verständigung, nicht der Erklärung. Im ‚An-sich‘ giebt es nichts von ‚Causal-Verbänden‘, von ‚Nothwendigkeit‘, von ‚psychologischer Unfreiheit‘, da folgt nicht ‚die Wirkung auf die Ursache‘, da regiert kein ‚Gesetz‘.“ (Nietzsche (1999) – § 21) Anders als Tebartz van Elst will Nietzsche allerdings dadurch nicht wieder einen moralphilosophisch prekär gewordenen Begriff von „Freiheit“ ermöglichen, sondern er naturalisiert das Wollen konsequent: „Der ‚unfreie Wille‘ ist Mythologie: im wirklichen Leben handelt es sich nur um starken und schwachen Willen.“ (Nietzsche (1999) – § 21)

 

Zentral für die positive Erfüllung seiner Freiheitskonzeption ist für Tebartz van Elst das, was er metaphorisch die „neurophysiologische Eroberung der Zeit“ (S. 60, auch „psychobiologische“, S. 80, bzw. „neurobiologische Eroberung der Zeit“, S. 97) nennt. Damit wird die „zerebrale Verfügbarkeit von Repräsentationen der Vergangenheit und der Zukunft“ bezeichnet, welche die „Grundvoraussetzung[en] für die Entscheidungsfindung“ (S. 60) in der Gegenwart sind. Tebartz van Elst führt in diesem Zusammenhang den Begriff der „Endogenität“ ein, um die Tatsache der prinzipiellen Indeterminierbarkeit des in der Zeit strukturierten und zugleich bewussten und vor-/unbewussten semantischen Innenraums höherer Lebewesen zu rahmen. Mit diesem Begriff wird „die empirische Tatsache anerkannt und betont, dass durch die körperlich materialisierte Geschichtsbildung, Erkenntnisbildung und Modellierung von zukünftigen Ereignissen im biologischen und konzeptuellen Innenraum von höheren Lebewesen ein derart komplexes Gefüge von Bedeutungsphänomenen, Rückbezüglichkeiten und Umweltbezogenheiten entsteht, dass die Welt der subjektiven Bedeutungsphänomene und -relationen begrifflich kaum zu bewältigen ist. Die Gesamtheit dieser semantisch-konzeptuellen Welt eines lebendigen Subjekts, in deren Rahmen Entscheidungsprozesse wie oben beschrieben entstehen und letztendlich Entscheidungen gefällt werden, soll mit dem Begriff der Endogenität bezeichnet werden.“ (S. 89)

 

Menschen sind mehr oder weniger frei. Ein Erwachsener, der seine vergangene Biografie abwägend in einen gegebenen Entscheidungsprozess einfließen lässt und mögliche Effekte seiner Entscheidung abwägt, ist naturgemäß freier als ein Mensch, der an Zwangssyndromen oder an Depressionen leidet oder als ein Kleinkind, dessen Urteilskraft noch nicht entwickelt ist.

 

Der Essay schließt mit juristischen und neuropsychiatrischen Erwägungen zum Begriff der „Freiheit“ und mit Spekulationen zum „neurokognitiven Auftrag“, der sich aus der sprachlichen Verfasstheit unseres Wesens ergibt.

 

 Besprochenes Buch

Tebartz van Elst, Ludger (2015): Freiheit. Psychobiologische Errungenschaft und neurokognitiver Auftrag. Kohlhammer,  172 Seiten.

 Literatur

Libet, Benjamin (2004): Haben wir einen freien Willen? In: Christian Geyer (Hrsg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt a. M., S. 268-289.

Nietzsche, Friedrich (1999): Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. In: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München/Berlin/New York.

Roth, Gerhard (2004): Das Problem der Willensfreiheit. Information Philosophie (5), S. 1-6.

Singer, Wolf (2004): Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu reden. In: Christian Geyer (Hrsg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt a. M., S. 30-64.

 

Autoreninformation

Raphael Rauh, M.A.

Institut für Ethik und Geschichte der Medizin

Stefan-Meier-Str. 26

79104 Freiburg

E-mail: rauh@egm.uni-freiburg.de

 




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