Thomas Schramme
[Journal für Philosophie & Psychiatrie, Dezember 2011, Original paper]
Zusammenfassung
Der Beitrag entwickelt die These, dass die Figur des Amoralisten, wie sie in der Moralphilosophie diskutiert wird – also eine Person, welche die Moral nicht ernstnimmt bzw. gelten lässt – in Wirklichkeit gar nicht existieren kann. Die realen Fälle der Psychopathie verweisen auf moralisches Unvermögen, an dem Amoralisten nicht leiden. Insofern sind der Amoralist und der Psychopath nicht identisch. Unter Berufung auf Gilbert Ryle wird argumentiert, dass die Fähigkeiten, die uns die Moral ernstnehmen lassen, Psychopathen fehlen. Bei diesen moralischen Fähigkeiten ist in erster Linie an Empathie zu denken. Bei gesunden Menschen führt die Ausbildung dieser Fähigkeiten, also die moralische Erziehung, zu einem Ernstnehmen der Moral, das nicht einfach aufgegeben werden kann. Insofern wird es keine echten Amoralisten im moralphilosophischen Sinne geben.
Schlüsselwörter: Amoralist, Psychopathie, Antisoziale Persönlichkeitsstörung, Ryle, Empathie
Summary
It is argued that amoralists, i.e. people who do not care about morality, do not exist in reality. Real cases of psychopathy imply moral incapacity, which is not something that amoralists suffer from. Hence amoralists and psychopaths are not identical. I then discuss an argument by Gilbert Ryle and conclude that psychopaths lack the capacities that let other people care about morality. Empathy is the main moral capacity; in healthy people moral education results in their caring about morality, which cannot simply cease. I conclude that there are no amoralists in the philosophical sense of the term.
Keywords: Amoralist, Psychopathy, antisocial personality disorder, Ryle, empathy
In der philosophischen Debatte über die Grundlagen der Moral existiert ein Schreckgespenst: die Figur des Amoralisten. Diese Person lehnt jede normative Kraft der Moral ab. Sie ist nicht einfach unmoralisch, sondern a-moralisch, in dem Sinne, dass für sie moralische Regeln, Normen oder Vorschriften gar keine handlungsleitende Funktion haben. In der philosophischen Ethik wird bisweilen behauptet, dass wir dem Amoralisten einen Grund geben müssten, sich an die Moral zu halten; sonst sei die Grundlage der Moral als Institution der Verhaltenssteuerung gefährdet (Bayertz 2002, 2004).
In der psychiatrischen Praxis wiederum werden anscheinend reale Amoralisten diagnostisch beschrieben und therapeutisch behandelt, nämlich sogenannte Psychopathen, Soziopathen bzw. Menschen mit einer Dissozialen Persönlichkeitsstörung, wobei hier schon vorweggenommen werden soll, dass auf diese Terminologie noch näher einzugehen sein wird, denn es ist insbesondere fraglich, ob alle Personen, die an Antisozialer Persönlichkeitsstörung leiden, als moralunfähig gelten sollten. Ich benutze in diesem Artikel die Begriffe 'Psychopathie' und 'Psychopath' in erster Linie als Kürzel für moralisches Unvermögen und Moralunfähige. Ich will mich dabei der psychiatrischen Terminologie annähern, ohne diese einfach in einer bestimmten Konzeptualisierung der Ausdrücke zu übernehmen, d.h. ich will Raum lassen für eine Diskussion über die Angemessenheit verschiedener psychiatrischer Klassifikationen. Gleichzeitig will ich mit der Begriffsverwendung implizieren, dass die psychiatrische Forschung zur Psychopathie für die philosophische Fragestellung nach dem Amoralisten von Bedeutung ist. Eine weitere begriffsbezogene Warnung: Natürlich sind Psychopathen nicht einfach alle Menschen, die an einer psychischen Störung – einer Psychopathologie – leiden; auch diesem möglichen Missverständnis gilt es vorzubeugen.
Diese Vorbehalte vorausgeschickt: Können wir in Bezug auf die moralphilosophische Figur des Amoralisten Erkenntnisse gewinnen, wenn wir uns den psychiatrischen Fällen widmen? Und können wir umgekehrt möglicherweise Fortschritte in der psychiatrischen Klassifikation verzeichnen, wenn wir sie an der philosophischen Debatte spiegeln? Einer der Zwecke dieser Abhandlung wird sein, den Nachweis zu führen, dass dies tatsächlich möglich ist.
Ich werde in drei Schritten vorgehen: Zunächst möchte ich klären, was es heißt, amoralisch zu sein, indem ich frage, was es heißt, eine moralische Person zu sein. Wir sollten meines Erachtens unterscheiden zwischen Personen, die grundsätzlich zur Moral befähigt sind, und Personen, die unfähig zur Moral sind. Amoralisten werden in der philosophischen Diskussion meist als Personen dargestellt, die nicht moralisch sein wollen, die aber grundsätzlich dazu in der Lage wären. Ich werde mit Hilfe einer weithin unbekannten Argumentation von Gilbert Ryle die entscheidende übergreifende Fähigkeit zur Einnahme des moralischen Standpunkts in der Sorge bzw. dem Ernstnehmen (caring) der Moral identifizieren. In einem zweiten Schritt möchte ich näher auf das psychiatrische Konzept der Psychopathie und verwandter Kategorien eingehen. Ich möchte darlegen, warum ich glaube, dass Psychopathen moralunfähig sind und warum sie insofern eigentlich nicht der moralphilosophischen Figur des Amoralisten entsprechen. Psychopathen gehen bestimmte Fähigkeiten ab – zentral ist hier insbesondere die starke Einschränkung bzw. der Verlust der Empathie –, welche wesentlich für eine moralische Person sind. Meines Erachtens kann eine moralfähige Person nicht umhin, die Moral ernstzunehmen; dies ergibt sich gewissermaßen aus der Befähigung selbst, die eben nicht einfach "auf Eis gelegt" werden kann. Für die philosophische Debatte ergibt sich daraus, dass das Schreckgespenst des Amoralisten vielleicht gar nicht so schrecklich ist, wie mitunter angenommen wird. Dies gilt es im dritten, abschließenden Schritt näher zu beleuchten.
1. Was es heißt, (k)eine moralische Person zu sein
Man kann fragen, was es heißt, eine moralische Person zu sein, oder man kann fragen, was es heißt, keine moralische Person zu sein. Im Folgenden wird hoffentlich deutlich, dass die beiden Fragen nicht in jeder Hinsicht als dieselben Probleme gelten können, die nur unter umgekehrten Vorzeichen präsentiert werden. Es handelt sich also nicht einfach um identische Themen, jeweils unter positiver bzw. negativer Beschreibung. Ich glaube vielmehr, es existiert ein Sinn des Ausdrucks 'keine moralische Person sein', der nicht in der Beschreibung aufgeht, dass diese Person nicht eine moralische Person ist. Es gibt Personen, die in dem starken Sinne keine moralische Person sind, dass ihnen die Fähigkeiten zur Einnahme des moralischen Standpunkts fehlen. Insofern sind sie keine moralische Person in dem Sinne, dass sie nicht moralisch sein können, nicht bloß, dass sie keine moralische Person sind. Diese Personen sind zu unterscheiden von Personen, die einfach unmoralisch handeln oder sich nicht von moralischen Überlegungen leiten lassen, denn Moralunfähige sind dazu noch nicht einmal in der Lage. Moralunfähige Personen, so möchte ich argumentieren, gibt es wirklich. Sie sind nicht identisch mit den in der philosophischen Ethik recht häufig diskutierten sogenannten Amoralisten. Amoralisten sind Personen, die sich nicht von moralischen Überlegungen leiten lassen, dazu aber grundsätzlich in der Lage wären. In der Ethik werden sie üblicherweise als Herausforderung an die Begründungsmöglichkeit der Moral oder des moralischen Standpunkts eingeführt. Soll ich überhaupt moralisch sein? So wird bisweilen gefragt. Der Amoralist ist ein Mensch, der diese Frage in ihrer Grundsätzlichkeit aufwirft und verneint. Wenn wir ihm keinen Grund nennen können, so scheint es, dann basieren moralische Verpflichtungen auf keinem sicheren Fundament.
Zugegeben, die Figur des Amoralisten wird häufig bloß hypothetisch verstanden. Viele Moralphilosophen meinen, dass der Amoralist nicht tatsächlich existieren muss. Aber wenn meine Argumentation überzeugt, dann scheint die Denkbarkeit eines moralfähigen Amoralisten selbst im hypothetischen Sinne zu schwinden, da diese Figur aus konzeptionellen Gründen unplausibel wird, wenn auch vielleicht nicht völlig unmöglich. Die Undenkbarkeit ergibt sich aus meiner Behauptung, dass den Standpunkt der Moral zu erlernen gleichbedeutend damit ist, ihn ernstzunehmen und meinem damit verbundenen Zweifel, dass man aufhören kann, diesen Standpunkt ernstzunehmen. Somit haben wir es der hier verfolgten These zufolge nur dann mit keiner moralischen Person zu tun, wenn sie unfähig zur Einnahme des moralischen Standpunkts ist.
Selbstverständlich möchte ich nicht behaupten, dass die moralfähige Person immer und unter allen Umständen das moralisch Richtige tut oder zumindest dazu motiviert ist. Eine moralische Person zu sein scheint mir vergleichbar mit der Rede davon, eine rationale Person zu sein. Eine rationale Person zu sein bedeutet auch nicht, ständig rational zu handeln oder dauernd dazu disponiert zu sein. Es bedeutet vielmehr, die Fähigkeit zu haben, rational zu überlegen und zu handeln.
Beginnen wir mit einer kurzen Durchsicht, was man unter einer moralischen Person verstehen kann. Auf diese Weise können wir auch Verwendungsweisen aus dem Weg räumen, mit denen ich mich hier nicht befassen werde. Zunächst könnte man an eine Person denken, die in ihrem Handeln meistens, vielleicht sogar immer das moralisch Geforderte verwirklicht. Diese Person ist allerdings, so will ich behaupten, nicht unbedingt eine moralische Person. Sie handelt moralkonform, so viel ist richtig, aber sie versteht nicht unbedingt die Institution der Moral und die Gründe, warum sie so handeln soll, wie sie handelt.
Zweitens könnte man deshalb unter einer moralischen Person einen Menschen verstehen, der das moralisch Richtige aufgrund der richtigen Motivation tut. So identifiziert Kant den guten Willen als den Ursprung des moralisch guten Handelns. Aber auch diese Verwendungsweise des Begriffs der moralischen Person interessiert mich hier nicht, und es wäre wohl auch genauer, wenn man hier von einer moralisch guten Person sprechen würde. Meinem Verständnis zufolge ist jedenfalls auch die moralisch schlechte Person immer noch eine moralische Person. Zugegeben, hier scheint es Grenzen zu geben: Jemanden, der ausschließlich Missetaten verübt, als moralische Person anzusehen, scheint etwas verwegen. Allerdings würde man meiner These zufolge in diesem Fall wohl eher an der Moralfähigkeit der betroffenen Person zweifeln. Doch wie auch immer, es scheint eingängig, dass man, um als moralische Person zu gelten, weder eine besonders gute Person sein noch in jeder Situation das moralisch Richtige tun muss.
Ich hatte eben angedeutet, dass mich eine Idee der moralischen Person beschäftigen wird, die man im Sinne einer Fähigkeit konzeptualisieren kann, ähnlich wie die Idee der rationalen Person. Nach dieser Interpretation wäre eine moralische Person in der Lage, moralische Überlegungen zu verstehen und sich von ihnen leiten lassen zu können. Der Gegenbegriff hier wäre der Begriff des moralischen Unvermögens. Keine moralische Person in dieser Hinsicht zu sein, würde bedeuten, ein Psychopath zu sein. Wie wir gleich sehen werden, scheint die Idee der moralischen Person mit einem spezifischen moralischen Wissen zu tun zu haben, nämlich der Kenntnis des Unterschieds zwischen richtig und falsch, die wiederum mit einem Ernstnehmen dieses Unterschieds einhergeht.
Doch scheint es unbestreitbar, dass wir unter einer moralischen Person nicht nur die moralfähige Person verstehen, sondern eine, die diese Fähigkeit auch benutzt. Eine moralische Person zu sein, heißt nach diesem Verständnis die Disposition zu haben, das Richtige zu tun oder tugendhaft zu sein. Bisweilen wird hier auch, insbesondere in englischsprachigen Diskussionen, von einem moralischen Charakter gesprochen. Das Gegenteil einer moralischen Person in diesem Sinne ist der Amoralist. Keine moralische Person zu sein ist dieser Interpretation zufolge gleichbedeutend damit, moralisch indifferent zu sein. Wie bereits angedeutet, wird eine meiner zentralen Fragen sein, ob es möglich ist, keinen moralischen Charakter zu haben, obwohl man eine moralfähige Person ist. Es sei hier betont, dass der Amoralist kein unmoralischer Mensch sein muss. Denn dieser kann durchaus moralische Gebote und Normen gelten lassen, ja er kann durchaus einen moralischen Charakter besitzen. Er handelt nur eben nicht in Übereinstimmung mit diesen. Der Amoralist hingegen lässt die Institution der Moral nicht gelten, er hält sie für nicht verpflichtend.
Kommen wir nun zum Problem, was es heißt, eine moralische Person zu sein. Ich hatte eben angesprochen, dass wir die Einnahme des moralischen Standpunkts so verstehen können, dass wir das Wissen um den Unterschied zwischen richtig und falsch erwerben. In diesem Zusammenhang hat Gilbert Ryle in einem Aufsatz aus dem Jahr 1958 folgende Behauptung aufgestellt: Nehmen wir an, jemand fragt einen anderen, möglicherweise in vorwurfsvollem Ton: 'Kennst Du denn nicht den Unterschied zwischen richtig und falsch?' Die Antwort: 'Nun, ich habe ihn mal gelernt, aber inzwischen vergessen.' Ryle wiederum behauptet: "Es ist lächerlich, das zu sagen." (Ryle, 1958, S. 147) Ryle ist also der Überzeugung, dass es absurd sei anzunehmen, man könne den Unterschied zwischen richtig und falsch vergessen. Doch warum ist die Idee moralischer Vergesslichkeit lächerlich? Indem wir dieser Frage mithilfe Ryles nachgehen, werden wir sehen, so hoffe ich, warum meine vorher getroffene Behauptung, wonach eine moralfähige Person zu sein damit einhergeht, sich an der Moral zu orientieren, vielleicht nicht so abwegig ist, wie sie möglicherweise zunächst erscheint.
Ryle räumt zunächst eine wichtige, weil häufig zu findende, doch unzureichende Erklärung der Absurdität aus dem Weg. Man könnte meinen, den Unterschied zwischen richtig und falsch zu kennen sei eine Art Fertigkeit, also eine Form des knowing how, wie man im Englischen sagt. Doch Fertigkeiten können durchaus einrosten und schließlich vergessen bzw. verlernt werden. Das gilt nicht für das Wissen um den Unterschied zwischen richtig und falsch. So weist Ryle darauf hin, dass wir zum Beispiel böswilliges Verhalten nicht entschuldigen können, indem wir auf unsere mangelnde Praxis in Aufrichtigkeit oder Hochherzigkeit verweisen. Den Unterschied zwischen richtig und falsch zu kennen, scheint eine Art von Wissen zu sein, aber kein knowing how. Es ist wohl auch kein propositionales Wissen, also ein Wissen, dass etwas der Fall ist, denn diese Form des Wissens lässt sicherlich Vergessen zu, das moralische Wissen aber nicht.
Ryle setzt in der Folge das Wissen um den Unterschied zwischen richtig und falsch in Analogie zu einem ausgebildeten Geschmackssinn. Einen ausgebildeten Palat zu haben heißt, den Unterschied zwischen gut und schlecht zu kennen. Dazu gehören laut Ryle zwei Aspekte: zum einen, die Bewertungsmaßstäbe (standards of superiority) in einem bestimmten Geschmacksgebiet zu kennen, sei es ein ästhetisches Gebiet wie Kunst oder ein kulinarisches wie die Weinkunde; zum anderen, die Bewertungsmaßstäbe ernst bzw. wichtig zu nehmen (caring). Die Kenntnis um den Unterschied zwischen gut und schlecht bedeutet, diesen Unterschied ernst zu nehmen. Ryle behauptet: "There seems to be a sort of incongruity in the idea of a person's knowing the difference between good and bad wine or poetry, while not caring a whit more for the one than for the other; of his appreciating without being appreciative of excellences." (Ryle, 1958, S. 152)
Übertragen wir dies auf den analogen Fall der Kenntnis des Unterschieds zwischen richtig und falsch, dann besitzt man Ryle zufolge dieses moralische Wissen nur, wenn der Unterschied auch wirklich ernst genommen wird, also wenn man sich um ihn sorgt. Das scheint nun auch nicht allzu unplausibel, bedenkt man beispielsweise den Zusammenhang, den dieses Wissen mit der Instanz des Gewissens hat. Ein Gewissen zu haben heißt, Dinge, die diesem zuwiderlaufen können, ernstzunehmen (vgl. Ryle, 1940, S. 189).
Kehren wir nun zur Frage des moralischen Vergessens zurück. Ryle hält fest, dass man zwar den Unterschied zwischen richtig und falsch verlieren kann, so wie man einen ausgebildeten Geschmack verlieren kann, doch dass dies kein Vergessen darstellt. In diesem Fall hört man hingegen auf, die moralischen Standards ernst zu nehmen (ceasing to care). Umgekehrt bedeutet, das Wissen um den Unterschied zwischen richtig und falsch zu besitzen, diesen Unterschied ernst zu nehmen und entsprechend motiviert zu sein. Wissen, Ernstnehmen und Motivation sind hier eins, und Ryle wendet sich in diesem Artikel und anderen moralphilosophischen Schriften konsequenterweise gegen die übliche Trennung von Kognition, Emotion und Volition. "In our abstract theorizing about human nature we are still in the archaic habit of treating ourselves and all other human beings as animated department stores, in which the intellect is one department, the will is another department and the feelings a third department." (Ryle, 1972, S. 442) Insofern ist die Kenntnis des Unterschieds zwischen richtig und falsch ein Aspekt des Charakters einer Person. Jemand, der aufhört, um den Unterschied zwischen richtig und falsch besorgt zu sein, verliert nicht eine Information – also propositionales Wissen – oder eine Fertigkeit, sondern er ändert sich selbst. Er unterläuft einem Sinneswandel oder, wie man im Englischen sagt, a change of heart (Wallace, 1986, S. 47). Kurz, moralisches Wissen im Sinne Ryles zu besitzen heißt, eine moralische Person zu sein oder, wie man es auch manchmal ausdrückt, die Tugenden zu haben.
Ich möchte nun eine Frage aufwerfen, der sich Ryle selbst nicht explizit widmet: Was genau passiert, wenn Menschen aufhören, um den Unterschied zwischen richtig und falsch besorgt zu sein? Ich hatte Ryle so interpretiert, dass er das Wissen um den Unterschied zwischen richtig und falsch identifiziert mit dem Erwerb des Status, eine moralische Person zu sein. Wenn nun jemand aufhört, um den Unterschied zwischen richtig und falsch besorgt zu sein, hört er dann auf, eine moralische Person zu sein? Ist das nicht eine notwendige Folge der Ryle'schen Position?
Zunächst einmal sollte festgehalten werden, dass in der Rede vom Wissen um den Unterschied zwischen richtig und falsch eine Ambiguität steckt, die ich bisher noch nicht thematisiert habe. Dieser Ausdruck kann zum einen das Wissen um den Unterschied zwischen richtig und falsch meinen, so wie er sich etwa in der Auszeichnung bestimmter Dispositionen als Tugenden oder Laster zeigt. Ein Beispiel wäre das Wissen, dass Wahrhaftigkeit moralisch richtig und Lügen falsch ist. Zum anderen kann der Ausdruck meinen, dass jemand um das Bestehen eines Unterschieds zwischen richtig und falsch weiß. In der ersten Lesart würde bedeuten, über das fragliche Wissen zu verfügen, dass man die moralischen Bewertungsmaßstäbe kennt, also moralische Informationen besitzt und diese ernstnimmt. Der zweiten Lesart zufolge wäre moralisches Wissen gleichbedeutend damit zu wissen, dass überhaupt ein Unterschied zwischen richtig und falsch besteht, und sich um diesen zu sorgen. In dieser zweiten Interpretation wäre also die Kenntnis des Unterschieds zwischen richtig und falsch gleichbedeutend mit der Wertschätzung, dass es so etwas wie die Moral überhaupt gibt.
Die von mir aufgeworfene Frage, ob man aufhören kann, eine moralische Person zu sein, scheint nun nicht darauf zu zielen, ob man, im Sinne der ersten Interpretationen, aufhören kann, eine bestimmte Auffassung, was tugendhaft und was lasterhaft ist, ernstzunehmen; das kann man sicherlich. Es ist beispielsweise möglich, das Lügenverbot nicht mehr ernstzunehmen. Kann man aber aufhören, überhaupt um das Bestehen eines Unterschieds zwischen richtig und falsch besorgt zu sein? Ich werde bezweifeln, dass das möglich ist, weil ich glaube, dass die spezifische Natur der Fähigkeit zur Moral es unmöglich macht, sich um die Moral nicht zu scheren und die Moralfähigkeit einfach nicht einzusetzen. Mein Augenmerk wird dabei in erster Linie auf unserer Fähigkeit zum Mitgefühl liegen. Ich behaupte also, dass eine moralfähige Person sich nicht in einen Amoralisten verwandeln kann.
2. Psychopathie als psychiatrische Kategorie
Bevor wir aber die Frage ausführlicher beantworten, ob man gewissermaßen die Institution der Moral insgesamt aufhören kann anzuerkennen, wenden wir uns dem eingangs erwähnten Phänomen der Psychopathie zu. In der psychiatrischen Klassifikation existieren insbesondere drei einschlägige Kategorien: Im International Classification of Diseases (ICD) wird die Dissoziale Persönlichkeitsstörung beschrieben als "eine Persönlichkeitsstörung, die durch eine Missachtung sozialer Verpflichtungen und herzloses Unbeteiligtsein an Gefühlen für andere gekennzeichnet ist." Im amerikanischen Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-IV) wird die Diagnose Antisoziale Persönlichkeitsstörung unter folgenden Voraussetzungen ermöglicht: "There is a pervasive pattern of disregard for and violation of the rights of others occurring since age 15 years, as indicated by three (or more) of the following: (1) failure to conform to social norms with respect to lawful behaviors as indicated by repeatedly performing acts that are grounds for arrest; (2) deceitfulness, as indicated by repeated lying, use of aliases, or conning others for personal profit or pleasure; (3) impulsivity or failure to plan ahead; (4) irritability and aggressiveness, as indicated by repeated physical fights or assaults; (5) reckless disregard for safety of self or others; (6) consistent irresponsibility, as indicated by repeated failure to sustain consistent work behavior or honor financial obligations; (7) lack of remorse, as indicated by being indifferent to or rationalizing having hurt, mistreated, or stolen from another." Schließlich existiert die Psychopathy Checklist (PCL-R) des bekannten Psychologen Robert Hare, die verschiedene Faktoren vorgibt, beispielsweise "aggressive narcissm" bezüglich der Persönlichkeit oder "socially deviant lifestyle" in Bezug auf die Fallgeschichte. Insgesamt sind 20 Kriterien der Checkliste durch mindestens einen trainierten Diagnostiker anhand eines Punktesystems zu testen. Erreicht eine Person 30 Punkte oder mehr, gilt er dieser Klassifikation zufolge als Psychopath. Bei Hares Checkliste handelt es sich nicht um eine offizielle psychiatrische Nosologie, aber sie findet gleichwohl immer größere Verbreitung, speziell in forensischen Kontexten (Hare & Neumann, 2010).
Mir fehlen hier der Raum und letztlich auch die notwendige Expertise, um diese psychiatrischen Kategorisierungen ausführlich zu untersuchen. Es bleibt mir nur, eine Warnung auszusprechen gegenüber einer unkritischen Übernahme des "Datenmaterials", das ich ja für durchaus relevant für meine philosophische Fragestellung halte. Zunächst fällt auf, dass die psychiatrischen Klassifikationen einen engen Bezug auf Normenübertretung, also das manifeste Verhalten von Personen aufweisen. Dieses wird ergänzt durch recht vage Hinweise auf emotionale Störungen wie Mitleidlosigkeit, Frustrationsintoleranz oder Aggressivität. Ein Problem dabei besteht darin, dass abweichendes Verhalten sehr verschiedene Ursachen haben kann. Es muss darum gehen herauszufinden, ob die Person unfähig oder nicht willens ist, sich normenkonform zu verhandeln. Nur im ersten Fall wird man von einer genuinen psychischen Störung sprechen können. Es geht also um nichts anderes als um die alte Frage "mad or bad?" (Reznek, 1997). Dazu müsste in einer wissenschaftlichen Perspektive gefragt werden, welche Art von Defizit, also welche spezifische psychische Dysfunktion der antisozialen Persönlichkeit zugrunde liegt. So wie die Psychopathie und ähnliche Kategorien in den genannten Klassifikationen beschrieben sind, handelt es sich um vergleichsweise enorm ungewöhnliche psychiatrische Kategorien; schließlich tauchen explizit stark normativ geprägte Ausdrücke wie "Herzlosigkeit" (ICD), "rücksichtlose Missachtung" (DSM) oder "parasitärer Lebensstil" (PCL-R) auf.
Weiterhin wäre für meine Zwecke zu unterscheiden zwischen tatsächlich moralunfähigen Psychopathen und in ihren moralischen Fähigkeiten eingeschränkten Personen. Ich hatte den Begriff "Psychopath" hier als Kürzel für moralunfähige Personen gebraucht, nicht im Sinne der Hare'schen Checkliste – auch wenn sich durchaus Überschneidungen ergeben können. Es scheint also deutlich, dass eine einfache Übernahme psychiatrischer Veröffentlichungen zur Beantwortung philosophischer Fragestellungen nicht angemessen wäre. Hier müsste die empirisch-wissenschaftliche Forschung sich selbst durch die analytischen Erkenntnisse der philosophischen Debatte erhellen lassen; es gilt also, eine genuin interdisziplinäre Perspektive zu erreichen.
Auch wenn dies ein langfristiges Projekt wäre, kann man doch festhalten, dass bei allen Unterschieden in der Klassifikation die psychiatrische Perspektive bereits jetzt die Folgerung zuzulassen scheint, dass Psychopathen – verstanden als Extremfälle einer antisozialen Persönlichkeit – nicht über die Fähigkeit verfügen, den moralischen Standpunkt einzunehmen. Warum dem so ist, darüber wird wiederum in der psychiatrischen und auch philosophischen Literatur diskutiert, ohne dass sich eine bestimmte Erklärung durchgesetzt hätte. Mir wird es hier allerdings auch nicht um die kausale Erklärung, also die Ätiologie dieser psychischen Störung gehen, sondern um die Frage, welche Art von Defizit Psychopathen haben. Bezüglich der ersten Frage, warum Psychopathen unfähig zur Moral sind, gibt es zwei grundsätzlich verschiedene Erklärungen: Zum einen kann ein organisches bzw. psychisches Defizit vorliegen, das es der Person unmöglich macht, den moralischen Standpunkt einzunehmen. Zum anderen kann die moralische Unfähigkeit durch mangelnde moralische Erziehung verursacht sein. Beide Erklärungen erscheinen mir plausibel und sie widersprechen sich auch nicht. Im ersten Fall fehlt der Person die biologische Anlage zur Moralfähigkeit, im zweiten Fall ist die Anlage nicht zu einer Fähigkeit ausgebildet worden.
Was die Frage des spezifischen Defizits von Psychopathen angeht, gibt es ebenfalls keine einheitlichen Theorien. Allerdings stimmen viele Ansätze überein, dass Psychopathen keine Schwierigkeiten damit haben zu verstehen, dass in Gesellschaften normative Erwartungen an das Verhalten von Menschen gestellt werden. Sie sind auch in der Lage, konkrete moralische Pflichten zu benennen. Darüber hinaus können sie moralische Reaktionen anderer wie etwa Tadel oder Scham vorhersehen und in ihre Überlegungen mit einbeziehen. Daher können sie auch durchaus moralkonform handeln; sie müssen nicht notwendigerweise moralische Normen übertreten oder Gesetze brechen, auch wenn das aufgrund ihrer Störung wahrscheinlich ist. Was Psychopathen jedoch abzugehen scheint, ist ein wirkliches Nachvollziehen bzw. Verstehen der genannten moralischen Reaktionen, da sie zu ihnen selbst nicht fähig sind. Ein wesentliches Defizit liegt nicht im Bereich instrumentellen Überlegens und Handelns; vielmehr fehlt es ihnen in erster Linie an Mitgefühl. Darin sind sich nahezu alle Theorien zur Psychopathie einig (vgl. Blair, Mitchell & Blair, 2005). Für meine Zwecke wird dieses Defizit entscheidend sein. Psychopathen leiden also in der von mir hier vorgestellten Sichtweise an einem genuinen "lack of moral sense". Ob sie zusätzlich noch andere Störungen zu verzeichnen haben – was sehr wahrscheinlich ist – soll mich hier nicht weiter beschäftigen.
In der psychologischen Literatur zum Thema Empathie wird unterschieden zwischen Empathie als einem Erkenntnisvermögen und Empathie als Vermögen zum Mitfühlen (vgl. Smith, 2006). Der erste Typ wird als kognitive Empathie bezeichnet. Hierbei geht es um die Fähigkeit, andere Menschen oder Wesen zu verstehen, ihnen beispielsweise Überzeugungen und Wünsche zuschreiben zu können, also um die Perspektivenübernahme (theory of mind). Wo diese Form der Empathie greift, gelangt man zu einer Erkenntnis, dass jemand in einer bestimmten Verfassung ist. Es existiert inzwischen eine ausgedehnte Debatte zu den neurophysiologischen Grundlagen dieser Fähigkeit (Shamay-Tsoory et al., 2009). Insbesondere die Funktion der sogenannten Spiegelneuronen wird hier immer wieder ins Spiel gebracht, wobei deren Rolle für die jeweiligen Typen der Empathie kaum als abschließend geklärt gelten kann. Interessant ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass Psychopathen manchmal kognitive Fähigkeiten zugeschrieben, bisweilen aber auch abgeschrieben wird (Nichols, 2002; Maibom, 2005).
Eine zweite Form der Empathie besteht im emotionalen Nachempfinden bzw. Mitempfinden mit einem anderen Wesen, also einem emotionalen Akt. Auf diese Form der Empathie konzentrieren sich die moralischen Sentimentalisten (vgl. Slote, 2010). Nun scheint aber für ein tatsächliches Einnehmen des moralischen Standpunkts weder die eine noch die andere Form der Empathie hinreichend zu sein. Wir müssen nicht nur in der Lage sein, uns in andere Wesen hineinzuversetzen, sondern auch, moralisch relevanten Merkmalen, wie beispielsweise Schmerzempfindungen oder Interessen, Bedeutung verleihen zu können, die wiederum unser Verhalten beeinflussen können. Kommt beides zusammen, entsteht etwas, was häufig als moralische Wahrnehmung beschrieben wird. Wir haben dann eine Art direkten Zugang zu moralischen Aspekten einer Situation. Doch moralische Wahrnehmung ist eben ein komplexer Vorgang, der keineswegs auf einer spezifischen Sinnesfähigkeit zu beruht scheint, sondern auf einem Zusammenspiel verschiedener Fähigkeiten, die keineswegs allesamt nur für den Bereich der Moral relevant sind.
Mitgefühl ist demnach nicht einfach ein primitives emotionales Identifizieren mit anderen Wesen. Vielmehr wird Mitgefühl im Laufe des Lebens, insbesondere in der Kindheit, zu einer komplexen Fähigkeit ausgebildet. So lernen Menschen beispielsweise, dass das Mitgefühl nicht nur den engsten Freundes- und Verwandtenkreis betrifft, sondern ausgedehnt werden kann, potenziell auf alle Menschen, und dass dabei Konflikte auftreten können. Um diesen Schritt zu erlernen, bedarf es neben der emotionalen Fähigkeit, überhaupt mitfühlen zu können, weiterer kognitiver Fähigkeiten. Beispielsweise muss man verstehen können, dass Menschen sich in bestimmten Hinsichten gleichen, etwa in Bezug auf ihre Anfälligkeit, Schmerzen zu erleiden. Darüber hinaus haben Menschen die Fähigkeit, gegenüber abstrakten Werten wie Frieden, Gerechtigkeit oder Nation motivationale Bindungen zu entwickeln. Diese Komplexität der Moralfähigkeiten wird auch in neueren Forschungen zur Psychopathie bestätigt (Lynum, 2010; Churchland, 2011). Diese Störung ist eben keineswegs als rein affektives Defizit zu erklären, sondern beeinträchtigt ein ganzes Bündel an Fähigkeiten, die im Normalfall in ihrem Zusammenspiel die Moralfähigkeit von Menschen sichern.
Mich interessieren hier allerdings nicht die Details einer Theorie der moralischen Entwicklung. Mir ist vielmehr wichtig zu betonen, dass das Mitgefühl nicht als bloßer Affekt missverstanden werden sollte. Wenn Menschen zum Mitgefühl befähigt worden sind, dann haben sie gewissermaßen "moralischen Ballast" mit erworben. So sind sie unter anderem in der Lage, sich in andere Menschen hineinzuversetzen; sie wissen, dass Menschen verletzlich sind und dass sie selbst durch ihre Handlungen Schmerzen verursachen können. Sie verspüren außerdem die Motivation, solche Handlungen, soweit möglich, zu vermeiden, da sie sonst ihrem Gewissen zuwiderhandeln würden. Natürlich gehören zur moralischen Erziehung noch weitere Aspekte, die ich hier weitgehend ignoriere, um mich auf das Mitgefühl konzentrieren zu können. Doch es sollte klar geworden sein, dass bereits die Ausbildung dieser spezifischen Fähigkeit komplexe Entwicklungen verlangt, die keineswegs auf den affektiven Bereich beschränkt sind. Insofern findet sich hier Unterstützung für Ryles Kritik an der Trennung von Kognition, Emotion und Motivation. Eine weitere Folge dieser Überlegungen besteht darin, dass das fehlende Mitgefühl der Psychopathen durchaus seinen Ursprung in einem kognitiven Defizit haben kann, etwa im mangelnden Verstehen von Handlungsfolgen. Insofern scheint es mir falsch, Psychopathie als rein emotionale Störung zu begreifen, wie es manchmal geschieht. Es handelt sich vielmehr um ein Konglomerat verschiedener Defizite.
3. Konklusion: Moralfähigkeit und Ernstnehmen der Moral
Kehren wir nun zu unserer Frage im Anschluss an Ryles Überlegungen zurück: Ist es denkbar, dass jemand, der die Fähigkeit zur Moral erworben hat, der also, in Ryles Terminologie, um den Unterschied zwischen richtig und falsch weiß, aufhören kann, die Moral ernstzunehmen? Kurz gesagt, kann eine moralische Person sich in einen Amoralisten verwandeln? Ich denke, es ist ohne Weiteres denkbar, dass sich eine ursprünglich moralische Person in einen Psychopathen verwandelt, etwa indem durch einen Unfall bestimmte Hirnregionen geschädigt werden. Doch der Fall, den wir vor uns haben, ist ein anderer. Die Person, die aufhört, sich um die Moral zu sorgen, verliert nicht die Fähigkeit zur Einnahme des moralischen Standpunkts. Sie hört einfach auf, diesen wertzuschätzen. Doch ist das möglich? Mir scheint es aus mindestens zwei Gründen undenkbar: zum einen, weil es bedeuten würde, neben der Fähigkeit zur Moral auch andere Fähigkeiten nicht mehr ernst zu nehmen. Wie wir gesehen haben, sind die Einnahme des moralischen Standpunkts und insbesondere die Ausbildung des Mitgefühls an ein komplexes Netz von Fähigkeiten gekoppelt. Wollte man sozusagen das Paket der Moralfähigkeiten aufhören ernst zu nehmen, dann müsste man sehr viel mehr aufgeben als nur den moralischen Standpunkt. Zweitens sind wir als Menschen soziale Wesen. Die Kosten, die Moral als Institution der Verhaltenskoordination nicht mehr wertzuschätzen, scheinen mir in einem gemeinschaftlichen Zusammenhang immens. Dies wiederum kann man sehr gut an der gesellschaftlichen Situation von Psychopathen sehen, auch wo diese möglicherweise noch nicht einmal straffällig geworden sind: sie sind gesellschaftliche Außenseiter. Aus diesen zwei Gründen meine ich, dass der Verlust des moralischen Standpunkts nahezu ausgeschlossen erscheint. Die mangelnde Möglichkeit, sich vorzustellen, dass jemand aufhört, die Moral insgesamt ernst zu nehmen – wohlgemerkt, wir reden hier nicht bloß von einzelnen Normen – folgt aus der Überlegung, was es heißt, eine moralfähige Person zu sein.
Als abschließendes Indiz für diese Undenkbarkeit soll auf eine Gruppe von Verbrechern verwiesen werden, die häufig als Amoralisten gelten, nämlich die nationalsozialistischen Massenmörder, wie etwa Adolf Eichmann oder Amon Göth. Diese waren allerdings meines Erachtens gerade nicht Personen, die der Institution der Moral gar keine Beachtung geschenkt hätten, denn sie handelten sehr wohl moralisch, wenn auch nur gegenüber einigen Personen. Umso schwerer ist es für uns zu verstehen, wie sie überhaupt zu solchen Verbrechen in der Lage sein konnten. Wir wissen allerdings auch, dass ein psychologisch wichtiger Faktor bei Gräueltaten darin besteht, den Opfern den Status des Menschseins abzusprechen. Das Nazi-Beispiel zeigt uns daher meines Erachtens, wie schwierig es ist, vielleicht undenkbar, jegliche moralische Bedenken über Bord zu werfen. Wie am Anfang bereits gesagt, eine moralische Person zu sein heißt nicht, zu schwersten Verbrechen unfähig zu sein. Die Nazis waren moralische Personen, wenn auch moralisch extrem schlechte Personen.
Fassen wir nun unsere Ergebnisse zusammen: Eine moralische Person zu sein heißt primär, eine moralfähige Person zu sein. Ich habe versucht zu argumentieren, dass eine solche moralfähige Person die Moral als Institution ernst nimmt und geneigt ist, sich an ihr zu orientieren. Hat sie die Moralfähigkeit einmal erworben, so gibt es gewissermaßen keinen Weg zurück, zumindest keinen, der nicht wieder in die Moralunfähigkeit führt, etwa durch einen Unfall mit der Folge einer Hirnschädigung. Aufzuhören, die Institution der Moral ernst zu nehmen, wenn man sie einmal wertschätzen gelernt hat, scheint mir undenkbar, weil es bedeuten würde, neben dem Mitgefühl für andere Menschen Fähigkeiten zu verlieren, die uns befähigen, überhaupt unser Leben zu leben. Es hieße auch, sich aus einem sozialen Zusammenhang zu katapultieren. Die Moral scheint also ein Aspekt der conditio humana zu sein. Ernst Tugendhat hat sich einmal gegen die Idee gewandt, die Moral als einen Teil der menschlichen Biologie zu konzipieren; als – wie er sagt – einen Teil von mir wie mein Herz oder mein Rückgrat (Tugendhat, 1993, S. 97). Ich denke, dem ist zuzustimmen. Allerdings ist die Einnahme des moralischen Standpunkts das Ergebnis der Erziehung durch andere Menschen, die sich unsere biologischen Anlagen zunutze machen. Eine moralische Person zu sein ist insofern ein Aspekt der zweiten Natur des Menschen.
Literatur
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Dr. Thomas Schramme
Universität Hamburg
Philosophisches Seminar
Von-Melle-Park 6
20146 Hamburg
thomas.schramme@uni-hamburg.de
Thomas Schramme ist Professor für Praktische Philosophie an der Universität Hamburg. Er hat mehrere Jahre als Betreuer in einer Wohngemeinschaft für psychisch kranke Erwachsene der frankfurter werkgemeinschaft e.V. gearbeitet sowie zahlreiche Veröffentlichungen im Bereich der Philosophie der Psychiatrie vorgelegt, u.a. die Monographie Patienten und Personen: Zum Begriff der psychischen Krankheit (Fischer Verlag 2000). Kürzlich erschienen ist ein von ihm herausgegebenes Heft der Zeitschrift Theoretical Medicine and Bioethics zum Thema New Trends in Philosophy of Psychiatry (31/1, 2010). In Vorbereitung befindet sich der von ihm betreute Sammelband Being Amoral: Psychopathy and Moral Incapacity bei MIT Press.